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Big Thief - „Dragon New Warm Mountain I Believe In You“

Vanitas! Das neue, große, sehr gute Album „Dragon New Warm Mountain I Believe In You“ von Big Thief dreht sich einmal mehr darum, wie uns die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt.

Von Lisa Schneider

„You and I are gonna live forever“, hat Noel Gallagher mal sehr berühmt proklamiert, es sind seither fast 30 Jahre vergangen. „Would you live forever, never die?“, fragsingt Adrienne Lenker am ersten Lied des neuen Big-Thief-Albums, sie beantwortet die Frage mit einer entwaffnenden Gegenfrage gleich selbst: „While everything around passes?“

Was hat sich also geändert? Der Rock’n’Roll ist vielleicht einen Ticken unegoistischer, unhedonistischer und zaghafter, weil überlegter geworden. Daran sind nicht nur, aber schon auch die letzten zwei Jahre schuld. Aber ganz abgesehen davon war das große Thema der Band Big Thief schon immer die Vergänglichkeit.

2019 haben Big Thief gleich zwei Alben veröffentlicht, eines davon, „U.F.O.F.“, wurde damals in der Kategorie „Best Alternative Album“ bei den Grammys nominiert. Big Thief - die Band, die die Kritiker*innen lieben, die Fans noch viel mehr. Das nicht nur wegen der großen poetischen Kraft der Texte von Adrienne Lenker, aber zu maßgeblichen Teilen. Wer mag, kann sich einen schönen Spaß daraus machen, die Reddit- und Diskogs-Foren dieser Welt zu durchforsten und sich den neuesten Diskussionen zu einzelnen Wörtern, ja Silben, widmen. Fantum ist etwas Schönes, weil es verbindet.

Big Thief Albumcover "Dragon New Warm Mountain I Believe In You"

4AD

Das Doppelalbum „Dragon New Warm Mountain I Believe In You“ von Big Thief erscheint via 4AD.

Das neue, umfangreiche Album „Dragon New Warm Mountain I Believe In You“ ist aber keiner von Adrienne Lenkers Alleingängen (auch das kann sie sehr gut). Im Mittelpunkt, und darauf bezieht sich vor allem der zweite Teil des Albumtitels, stehen die alte romantische Idee der Band an sich und die Funken, die nur sprühen, wenn Menschen gemeinsam kreativ sind. Buck Meek, Gitarrist bei Big Thief, findet im FM4 Interview viele gute Gründe, in einer Band zu spielen. Das gemeinsame Musikmachen zeichnet für ihn vor allem das uneingeschränkte Vertrauen aus, die Sicherheit, sich fallenzulassen. Wenn der Druck, etwas Originäres und Gehaltvolles zu erschaffen, eh schon von außen an die (Schädel-)Decke drückt, dann sollte man ihm am besten als gleichgesinnte Formation begegnen. Das Ziel sei es - es klingt auf Deutsch übersetzt nur halb so gut - „to reach something beneath it all, something real.“

Buck Meek sagt im FM4 Interview tatsächlich solche Sätze. Es ist Dezember, wir sind über zwei Laptopbildschirme verbunden, er ist gerade irgendwo in einem offenbar wettergeschüttelten Häuschen im Topanga Canyon. Es ist sehr kalt, bestätigt er dick eingemummelt, aber das sei auch gut so. Endlich habe es geregnet, und das sei eine Wohltat. Es sei in der Gegend normalerweise viel zu trocken.

Buck Meek, Adrienne Lenker und auch die beiden weiteren Bandmitglieder von Big Thief, Max Oleartchik und James Krivchenia wirken nicht nur viel älter, als sie sind (um die 30), sie sprechen, sie klingen auch so. Ein Hauch von Hippie-Ästhetik, von charmanter Esoterik oder schlicht starker Naturverbundenheit umgibt das Projekt Big Thief von Anfang an.

Jetzt haben die vier Musiker*innen vier Monate lang in den Wäldern von Upstate New York, im Topanga Canyon, in den Rocky Mountains und in Tucson, Arizona, teilweise in der Natur und mit immer wieder drohendem Stromausfall, ihr bestes Album aufgenommen. Manche Geschichten kann man so auch nicht erfinden.

Big Thief

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So erzählt Buck Meek etwa von der Entstehung eines speziellen Songs, er heißt „Certainty“. Das zu imaginierende Setting: Waldhütte, Regen, Stromausfall. Er muss wissen, wie wildromantisch die folgende Beschreibung klingt, und es gefällt ihm.

Adrienne Lenker sitzt auf der Couch und schreibt, gemeinsam vollendet sie dann mit Buck Meek die Lyrics. Währenddessen bauen die beiden anderen ein kleines, provisorisches Studio in der Küche auf, indem sie alles Nötige an die Autobatterie anschließen. Ein Take, die Tropfen tröpfeln, alles ist im Kasten. Die Geschichten über Bands, die sich in Wälder verkrümeln und dort zwischen Dosenfutter, langen Barthaaren und frühen Zu-Bett-geh-Zeiten die besten Alben schreiben, sind vielfältig und meistens gut. Das Wissen um die Entstehung dieser neuen Big-Thief-Songs ist aber gar nicht so wichtig, man hätte die Atmosphäre wohl auch so erspürt und erraten. Auch deshalb sind sie so gut.

Da ist das sanfte „Okay“, das man in den ersten Sekunden des Albums hört, bevor das Lied beginnt. Da ist das Knarzen und Krachen und Ächzen im Übergang einiger Songs, die klingen, als wäre noch schnell ein kleiner, aber schwerer Ledersessel vors Mikro gerückt worden. Da ist der Umgang mit professionellen Menschen - für jede der vier Sessions wurde ein anderer Produzent hinzugezogen - der großteils subtil passiert. Keine trickiness, keine überzogenen Spielereien, keine Glätte und keine Politur. Viele der Lieder sind einfach Demos einer Band, die es sich leisten kann, gleich beim ersten Durchlauf auf „record“ zu drücken. Da bleibt immer ein Anteil wertvoller Rohheit erhalten. An dieser Stelle könnten berechtige Gegner*innen von uferlosen Jamsessions die Stirn kurz in Falten legen - aber keine Sorge. Diese 20 Titel sind vollständige Songs mit vollständigen Melodien, kein Vor-sich-hin-Spielen, kein Überbrücken und kein Zeit-Totschlagen.

Adrienne Lenkers Stimme flüstert und raunt, sie bricht und schlängelt sich durch die Lieder zu oftmals seltsamen Harmonien (wie etwa auf „Time Changing“), und selbst wenn sie ihr wegbricht, ist da Selbstsicherheit. Inspiriert von unter anderem ihrem Soloalbum „instrumentals“, einer Sammlung improvisierter Gitarrenstücke, wollte sie auch die Musik ihrer Band in Bewegung, im Machen aufnehmen und festhalten.

Die gemeinsamen Sessions haben 2020 begonnen, nach einer Zeit ohne Liveauftritte, nach einer Zeit, in der gerade Spontaneität gut getan hat. Spontaneität auch, um in verschiedene Genre-Ecken zu schnuppern und alle möglichen musikalischen Fäden der Big-Thief-Familie zusammenzuführen. Da gibt es Lieder, die in reiner Gitarrenbegleitung zum erwähnten Solo-Oeuvre von Adrienne Lenker passen (das schönste: „Promise Is A Pendulum“). Da gibt es Lieder, die in ihrer atmosphärischen Dichte an die letzten Big-Thief-Alben erinnern („Simulation Swarm“ oder „Little Things“). Und da gibt es auch Lieder, die maultrommelgestärkt Richtung Country gehen („Spud Infinity“), beeinflusst von Buck Meeks eigenen Soloprojekten.

Eben das Lied „Spud Infinity“ ist die größte musikalische Überraschung, weil die Worte Humor und Big Thief sonst nur eher schwer in einem Satz unterzubringen sind. Gegeben der Ausgelassenheit und besagter Maultrommel ist das fast schon Genre-Parodie. Dabei werden die, die genau hinhören, auch anderswo den fein nuancierten, textlichen Witz Adrienne Lenkers bemerken. Wenn sie etwa den Tod zuerst sinnbildlich mit einem unbekannten Ort, dann aber wieder mit einem abgehalfterten Koffer vergleicht („Change“), oder wenn sie die biblische Anfangsgeschichte neu erzählt, wo Adam taumelt und Eva gebieterisch mit der Schlange spricht („Sparrow“).

An einem 20-teiligen Langspieler kann man scheitern oder in Facettenreichtum aufgehen, zweiteres gilt für Big Thief. „Yeah, I wanna live forever ’til I die“, heißt es dann am letzten Lied „Blue Lightning“. Als wäre nicht schon genug an Ideen herauszulesen, an Stimmungen aufzuschnappen, an Melodien zu verinnerlichen auf diesem Album, ist es auch noch ein inhaltlich in sich geschlossener Zyklus. Buck Meek dazu: „I never knew that! That’s so cool! So the whole album is a cycle in that regard, and the whole album can be a rebirth to itself.“ Die Zeit, das undankbare Ding, also doch geschlagen.

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