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Fatma Aydemir

Sibylle Fendt / Ostkreuz / Hanser

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Fatma Aydemir erzählt in „Dschinns“ versteckte Familiengeschichte

In „Dschinns“ dringt die deutsche Journalistin und Autorin Fatma Aydemir ins tiefste Innere der deutsch-türkischen Familie Yilmaz ein. Wir haben mit der Autorin über das Schweigen der sogenannten Gastarbeitergeneration und die Bedeutung von Familie gesprochen.

Von Melissa Erhardt

Istanbul, Ende der 90er. Hüseyin, der sich fast dreißig Jahre als sogenannter Gastarbeiter in deutschen Fabriken an seine körperlichen Grenzen geschuftet hat, steht kurz vor der Pension und erfüllt sich endlich seinen Lebenstraum, eine eigene Wohnung in Istanbul. Als er diese das erste Mal betritt, dem Geschrei der Möwen lauscht und gerade von seiner wohlverdienten Ruhe zu halluzinieren beginnt, bekommt er einen Herzinfarkt und stirbt.

Im Süden Deutschlands wird seine Familie - die vier Kinder und seine Ehefrau Emine - durch die Schocknachricht aus dem Schlaf gerissen. Sie müssen so schnell wie möglich in die Türkei:

Baba war tot. Sie mussten hin, sofort. Finde mal einen Istanbul-Flug mit vier freien Plätzen mitten in den Sommerferien. Kannst du vergessen.

Hier beginnt Fatma Aydemir ihren umfassenden Familienroman „Dschinns“ und begibt sich auf die Suche nach den Wahrheiten, die tief unter der Oberfläche schlummern.

Die verstummte „Gastarbeiter“-Generation

Schon mit ihrem Debütroman „Ellbogen“ hat Fatma Aydemir gezeigt, dass sie nicht nur Journalismus, sondern auch Prosa kann. Bis dahin hatte die 35-jährige als Redakteurin bei der deutschen Tageszeitung taz und Magazinen wie dem Missy Magazin gearbeitet und Kolumnen über Popkultur und Politik geschrieben. Für ihr literarisches Debüt erhielt sie 2017 den Klaus-Michael-Kühne-Preis. Während sie sich in „Ellbogen“ noch auf das Innenleben der einzigen Protagonistin Hazal fokussiert, widmet sich Aydemir in „Dschinns“ in jedem Kapitel einer anderen Figur. So arbeitet sie nach und nach die Vergangenheit der türkisch-deutschen Familie Yilmaz aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf.

Im Zentrum steht dabei das Schweigen der Eltern, vor allem des Vaters, Hüseyin. Auf der Suche nach einem besseren Leben kommt er nach Deutschland: Dort wartet aber nur Arbeit und Isolation. Über die Vergangenheit wird geschwiegen, keiner der Familienmitglieder weiß eigentlich, was im Kopf dieses Mannes, der ihnen doch eigentlich so nah ist, wirklich vorgeht. Hüseyin Yilmaz war die erste Figur, die Aydemir im Kopf hatte, als sie das Buch schrieb, erzählt sie mir im online Gespräch, nachdem das Internet endlich tut, was es tun soll:

Buchcover "Dschinns"

Hanser Verlag

„Dschinns“ ist im Hanser Verlag erschienen. In Mannheim wird die Geschichte von der Regisseurin Selen Kara gerade auf die Bühne gebracht.

„Mich fasziniert diese Figur total, weil ich diese Männer aus der ersten Generation von Arbeitsmigranten kenne. Sie sind Teil meines Lebens, und gleichzeitig weiß ich gar nicht so viel über sie. In der Vorbereitung auf das Buch habe ich Interviews geführt, aber auch aus eigenen Erfahrungen habe ich irgendwann festgestellt: Das ist eine Generation, die ganz viel verschwiegen und vor sich selbst verborgen hat. In Deutschland wird so alle paar Jahre, wenn es ein Jubiläum gibt, über die sogenannten Gastarbeiter gesprochen. Es ist immer eine sehr nostalgische und harmlose Erzählung: Diese Leute sind gekommen, haben gearbeitet, dies das. Aber es wird selten über ihre Verluste gesprochen, es wird sehr selten über die Dinge gesprochen, die sie mitgebracht haben. Und diese Erfahrungen und Erinnerungen haben diese Leute häufig tatsächlich mit ins Grab genommen. Dafür vor allem steht Hüseyins Schweigen.“

Dieser Generation der sogenannten Gastarbeiter und ihrer unermüdlicher Arbeit hat sich die Autorin schon im 2019 erschienenen Sammelband „Eure Heimat ist unser Albtraum“ gewidmet, den sie gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah herausgegeben hat. Im Essay „Arbeit“ schreibt sie dort:

„Ich bin im Deutschland der 90er Jahre aufgewachsen, in dem die widersprüchlichen Parolen ‚Ausländer sind faul‘ und ‚Ausländer nehmen uns die Arbeit weg‘ teilweise aus denselben Mündern miteinander konkurrierten. In meiner eigenen Familie, die über das Anwerbeabkommen der BRD und der Türkei in den frühen 70er Jahren eingewandert ist, konnte es sich weder jemand leisten, faul zu sein, noch irgendwem die Arbeit wegzunehmen. (…) Leute wie mein Großvater wurden angeworben, weil sie leichter ausgebeutet werden konnten als inländische Arbeiter*innen. Gewerkschaftlich kaum organisiert, flexibel, dankbar um jede Sonntagszulage.“

Hinter Hüseyins Schweigen in „Dschinns“ steckt aber noch eine andere Geschichte, die noch viel verzwickter ist und im Roman sehr sachte aufgearbeitet wird: „Es handelt sich ja eigentlich um eine kurdische Familie, die ihre kurdische Identität und ihre Sprache ablegt, sie den Kindern nicht mehr beibringt aus Schutz“, so Aydemir. Im Zuge der türkischen Assimilationspolitik habe der türkische Staat zu der Zeit die kurdische Minderheit nicht nur verfolgt, sondern ihr auch das Existenzrecht abgesprochen. Das mache natürlich etwas mit einer Familie, vor allem der damit verbundene Sprachwechsel: „Man wechselt vom Kurdischen ins Türkische und vom Türkischen ins Deutsche. Natürlich ist das bereichernd, vielsprachig zu kommunizieren, gleichzeitig ist aber ein großer Schmerz damit verbunden, wenn es nicht freiwillig war, die Muttersprache abzulegen.“

Die Dschinns, die unter der Oberfläche schlummern

Die sechs Personen, die Fatma Aydemir in ihrem Roman zusammenwürfelt, hadern alle mit eigenen Sorgen. Bei Ümit, dem Jüngsten der vier Geschwister, schweben mehr Fragen als Antworten im Kopf, er kämpft mit dem ihm zugewiesenen männlichen Rollenbild und überschreibt die von seinem großen Bruder geerbte Hip-Hop-Kassette mit Songs von Mariah Carey. Peri, die Zweitjüngste, ist zum Studieren nach Frankfurt gezogen und entdeckt sich dort zwischen feministischen Lesekreisen und ausgelassenem Studentenleben neu. Hakan verscherbelt gestohlene Gebrauchtwagen und will so dem Traum eines besseren Lebens ein kleines Stückchen näherkommen. Sevda, die Älteste der vier, versucht ihre Rollen als Restaurantbesitzerin und zweifache Mutter in Einklang zu bringen und Emine, die Mutter, will in diesem ihr so fremden Land einfach überleben, ohne dabei von alten Traumata eingeholt zu werden.

Jede*r kämpft still und für sich mit Ängsten und Selbstzweifeln, mit diesen „Dschinns“, wie sie Fatma Aydemir nennt. Nach islamischem Glauben sind Dschinns eigentlich (Geist-)Wesen, die unter uns Menschen leben, die wir aber nicht sehen können. Dadurch wirken sie primär einmal furchteinflößend:

Man nennt sie auf Türkisch nur die mit den drei Buchstaben, statt cin, aus Angst, man könnte sie versehentlich rufen und werde sie dann nie mehr los.

„Als ästhetisches Motiv fand ich das interessant“, erzählt mir die Autorin, „dass jede Figur eigentlich ihre eigenen Dschinns mitschleppt, die sie entweder vor den anderen verstecken will, weil es in dieser Beziehung keinen Platz für diese Gefühle oder diese Erfahrung gibt. Oder aber Dschinns, die man sich selbst vom Leib halten will, weil man nicht weiß, wie man damit umgehen soll. Das können Erinnerungen sein, das können aber auch Selbstzweifel, Teile deiner Identität oder auch einfach Ängste sein.“

Familie als Bootcamp

Diese Dschinns und die individuellen Lebenswege schaffen Distanz zwischen den einzelnen Familienmitgliedern im Buch, tiefe Abgründe tun sich auf und distanzieren die sechs voneinander. Trotzdem bleibt etwas, dass die verbindet: eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Herkunft, eine bestimmte Erziehung. Diesem Konzept von Familie, das Verbindende und Trennende, geht Aydemir nach:

„Was mich interessiert hat, war diese Spannung zwischen dem Wunsch, mein eigenes Leben zu leben und nicht die ganze Zeit diese Rollen zu erfüllen, die mit Familien ja immer einhergehen, und gleichzeitig der Sehnsucht danach, zu etwas dazuzugehören, in einer Gruppe zu sein, in der man sich wohlfühlt und in der man verstanden wird.“

Dass so eine Gruppe immer zwingend die eigene Familie sein muss, hat sich zwar inzwischen relativiert, vorherrschend ist der Gedanke aber trotzdem noch: „Es ist so weird, dass das Konzept von Familie so lange überlebt hat, weil es irgendwie ja gar nicht mehr so richtig zeitgemäß ist. Gleichzeitig kann man vielleicht Familie schon auch nutzen, um bestimmte Erfahrungen zu machen, bestimmte Kämpfe auszutragen, die man draußen sowieso auch mit anderen Menschen führen wird.“ Familie als eine Art Vorbereitung auf die Gesellschaft, hake ich nach. „Ja, oder ein Bootcamp, tatsächlich“, antwortet Fatma und lacht aus dem Bildschirm.

Nicht alle sind hetero, nicht alle cis

Mit ihrem Roman hat Aydemir die deutschen Feuilletonist*innen in zwei Lager geteilt: Die einen bezeichnen ihn als „Roman von außenordentlicher Identität“ mit einem „epischen Atem“ (Süddeutsche), die anderen als „Migrationsroman“ mit einem „stereotypen politaktivistischen Jargon“ und „gesinnungsästhetischen Manövern“ (Die Zeit).

Auf die Frage, ob sie mit dieser Kritik etwas anfangen könne, setzt Aydemir nach einer kurzen Denkpause an: „Ich bin immer wieder verblüfft, in was Leute alles Identitätspolitik reinlesen können, sobald eine Geschichte nicht mit der eigenen Lebensrealität übereinstimmt oder vereinbar ist. Ich sag mal so: Es ist nicht so überraschend, dass es Menschen gibt, die das überfordert, wenn es in einer Geschichte um eine migrantische Familie geht, in der nicht alle heterosexuell sind, in der nicht alle cis sind, in der nicht alle Opfer sind, und in der es auch sehr unterschiedliche politische und auch apolitische Haltungen geben kann. Mich überrascht das nicht, aber gleichzeitig frage ich mich schon: Was ist dann eine realistischere Geschichte für sie?“

Ich bin immer wieder verblüfft, in was Leute alles Identitätspolitik reinlesen können, sobald eine Geschichte nicht mit der eigenen Lebensrealität übereinstimmt.

Nachdem sie mir noch davon erzählt, dass die häufigste Kritik an ihrem Roman die „Unglaubwürdigkeit“ von Konversionstherapien in den 1990ern war (in Österreich wurden diese erst letztes Jahr offiziell verboten), ergänzt sie: „Ich finde, das sind die Geschichten, die erzählt gehören, weil sie Teil dieser Gesellschaft sind. Das sind die Abgründe, wo niemand reinschauen will, und wenn, dann wird das abgetan als nicht realistisch oder zu identitätspolitisch. Deswegen kann ich mit der Kritik nicht so viel anfangen.“

Gegen Ende von „Dschinns“ fügen sich die einzelnen Puzzleteile, die im Laufe des Romans aufgedeckt werden, schließlich zu einem großen Ganzen zusammen. Die unterschiedlichen Perspektiven auf die Vergangenheit der Familie ergeben ein Bild, das Gründe für die Mutter-Tochter-Konflikte ebenso deutlich machen wie für das Schweigen der Eltern. Damit bleibt „Dschinns“ bis zur letzten Seite spannend und endet genauso aufbrausend, wie der Roman begonnen hat.

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