FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Bienen

CC0

Blumenaus 20er-Journal

Verdammt zur Komplexität - ein Leben im Dauer-Kontext

Und noch etwas, das sich aus dem Protestsongcontest ergeben hat: Warum wir immer mehr mitdenken und einbeziehen müssen und wieso scheinbar abgeschlossene Systeme nicht mehr frei von kontextuellen Überlegungen sein können.

Von Martin Blumenau

Die Tage nach dem Protestsongcontest sind immer von viel Nachlese, Debatte und Widerspruch gekennzeichnet, so auch heuer. Da war zum Beispiel das Mail von T., in dessen PS ich einen Absatz vorgefunden habe, der mich ins Grübeln gebracht hat. Er geht so: Wo sind die Zeiten hin, als der Protest-Songcontest noch sowas war wie der Bachmannpreis der österreichischen Popkultur? Wo die einzelnen Beiträge so chirurgisch exakt auseinandergenommen worden sind von Skrepek und Dir, dass nichts mehr von ihnen übrig blieb als heiße Luft. Vielleicht hing es diesmal wohl mit der Qualität der Songs zusammen. Da gab es nicht viel Stoff zu analysieren.

Das stimmt. Heuer war das Final-Level leider nicht so toll, Ausnahme Dino - das ist/hat durch und durch Klasse. Ich hätte aber selbst bei meinen Zweit-Platzierten kritische Anmerkungen vornehmen müssen (mehr als einen Nebensatz bei der Punktevergabe), hab das dann aber deshalb unterlassen, weil neunmaliges Motzen seine Wirkung verliert, und mich aufs Wesentliche, also die gröbsten Trümmer konzentriert. Es wäre also genug Analyseträchtiges dabei gewesen.

Aber: Es geht so einfach nicht mehr. Es geht sich nämlich nicht mehr aus und es geht nicht mehr.

Die Zeiten, wo man - egal ob in der Wissenschaft oder im normalen Leben, ob im gesellschaftlichen Diskurs oder im Umgang mit Familie/Freunden - einzelne Dinge (egal was, aber eben auch z.B. einen Song) herausgreifen und durchbesprechen konnte, ohne sich ums Drumherum kümmern zu müssen, sind vorbei. Und ich bin alt genug noch zu wissen, dass das früher möglich und üblich war und auch ein positiv besetztes Image hatte. Sogar dem ausgewiesenen Fachtrottel wurde Verständnis entgegengebracht, seine Expertise von den anderen in die Realität umgetopft.

Das geht heute nicht mehr. Weil der Kontext king (oder queen) ist, und alle selber drauf achten müssen. Wer seinen Beitrag zu wasauchimmer nicht in einen Kontext stellt, hat schon verloren, wird nicht mehr wahrgenommen, weil a) die Zeit und b) die Geduld fehlt sich mit bezugslos Dahergeworfenem & -gedachtem & -gesprochenem ernsthaft auseinanderzusetzen.
Unsere Anforderungen an uns selber sind massiv gestiegen, weil die Anforderungen des Kapitalismus, der Globalisierung, der Beschleunigung, der Digitalität sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren potenziert haben.

Die logischen Gegenbewegungen dazu sind der luzide Populismus, die gerne nationalistische Simplifizierung und die windbeuteligen alternativen Fakten jener, die sich selber gar keine Anforderungen mehr setzen, also dem inneren Trump, dem denkfaulen und selbstgefälligen Sack in uns allen, nachgeben.

Die meisten von uns können sich diesen Luxus der Mächtigen aber (in Beruf oder Beziehung) nicht leisten, weshalb sie ihm in der Freizeit nachgehen, und weil Politik in dieses Feld fällt, hat das eh schlimme Folgen genug. Wir sind also zur zunehmenden Komplexität all unseren Handels verdammt. Und so müssen wir alle immer mehr mitdenken und einbeziehen und so können auch scheinbar abgeschlossene Systeme nicht mehr frei von kontextuellen Überlegungen sein.

Und deshalb geht es nimmer.
Nicht einmal mehr beim Bachmann-Preis stehen die Texte nur für sich, weil auch Literatur mittlerweile alles mitbedenken muss, der letzte, der das zu spüren bekam, weil er es vor 25 Jahren nicht mitbedacht hatte, war Peter Handke. Musik, noch dazu die textbasierte, ist ohnehin der ständigen Neu-Bewertung ausgesetzt. Und sie funktioniert auch nicht (mehr) in einem kontextlosen Raum. Genau so wichtig wie Text oder Klang sind mittlerweile Parameter wie Auffindbarkeit oder Alleinstellungsmerkmale und natürlich der Bezug zum geografischen, geopolitischen oder sozialen Umfeld. Ein Musikstück kann schon innerhalb eines Sprachraums verschiedene Bedeutungen haben.

Diese gesteigerte Diversität innerhalb der Künste erfordert auch eine ganz andere Betrachtung und Bewertung - deshalb sind auch die Hinweise darauf, wie viele Musikant*innen in einer Live-Band sind, so outdated, wenn etwa die soziokulturelle Struktur einer Gruppe deutlich bedeutender ist. Das alles innerhalb von wenigen Minuten nach einer Vorführung unterzubringen, ist deutlich komplexer und schwieriger, als dieselbe Aktion noch vor zehn, fünfzehn Jahren war. Wenn dazu noch die Lust nach der dicksten Wuchtel, ganz im Fellner’schen Boulevard-Sinn dazwischengrätscht, dann fällt die altgewohnte Analyse völlig aus. Weil es wichtiger ist, die zentralen Pflöcke für den Bereich einzuschlagen, im konkreten Fall den Protestsongcontest als Veranstaltung und Verantwortungsträger zu definieren, praktische Inklusion zu betreiben, anstatt sich im kleinen Geschmäcklerischen verlieren zu dürfen, wie das früher noch möglich war.

Ich möchte diese Entwicklung nicht bewerten: Der Kontext ist zurecht König und wurde früher deutlich untergebuttert. Einerseits. Andererseits trägt die aufgezwungene Selbstverpflichtung auch viel zum Optimierungswahn bei und raubt uns unsere Erholungs-Ressourcen, weil letztlich alles, auch die private Handlung, dann Arbeit ist. In dieser Ambivalenz existieren wir aber, ob wir wollen oder nicht.

Aktuell: