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And now for something completely different: Die Filme von Ben Wheatley

Verstörende Horrorschocker, surreale Sozialdramen und jetzt, mit der Neuverfilmung von „Rebecca“, ein poppiges Melodram: Der Brite gehört zu den wandelbarsten Regisseuren.

Von Christian Fuchs

Ben Wheatley wagt sich an eine Neuverfilmung von „Rebecca“? In der FM4 Filmredaktion hat uns diese Meldung verwirrt und aufgeganserlt zugleich. Zum einen, weil doch ziemlich viel Mut dazu gehört, sich einem Roman anzunähern, dessen berühmteste Adaption von keinem geringerem als Kinogott Alfred Hitchcock stammt. Zum anderen, weil wir uns von Wheatley, dem Regisseur abgründiger Meisterwerke wie „Kill List“ oder „High-Rise“, einen extravaganten Zugang erhofften.

Daphne Du Mauriers legendäre Gothic Novel zum puren Albtraumstoff transformiert? Nichts lieber als das. Die latenten Traumata, die in der Geschichte schlummern, an die Oberfläche geholt? Bitteschön. Der sexuelle Subtext, der die Backgroundstory von „Rebecca“ durchzieht, plakativ in den Mittelpunkt gerückt? Oh ja. Ben Wheatley verwandelt das morbide Anwesen Manderley sicher in einen düsteren Sündenpfuhl, dachten wir vorab.

Zwei Frauen sehen in einen Spiegel

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„Rebecca“

Bereits in den ersten Szenen seiner „Rebecca“-Version macht der britische Regisseur aber klar: Unsere Erwartungen werden nicht erfüllt. Ausgerechnet Wheatley überrascht mit leuchtenden Farben, warmem Sonnenlicht und bildschönen Menschen, die sich darin modisch räkeln. Wenn die unbefangene Protagonistin (Lily James) den reichen Witwer Maxim de Winter (Armie Hammer) kennenlernt, sieht das aus wie eine 40er-Jahre-Romanze für die Instagram-Ära.

Auch als sich die tragische Liebesgeschichte nach Manderley verschiebt, dem ikonischen Schauerort schlechthin, wo der Geist der Titelfigur noch immer durch die leeren Hallen spukt, hält sich der gothische Grusel in Grenzen. Ben Wheatley, der in seinen Vorgängerfilmen die Schattenseiten des Menschen schmerzhaft erkundete, liefert eine melodramatische Seifenoper. Einen schnell geschnittenen, die tiefe Tragik poppig umschiffenden Film, der wie vom Produzenten Netflix für kitschaffine Zielgruppen bestellt wirkt.

Rabenschwarzer Humor und Genre-Zitate

Dabei hat alles ganz anders begonnen. Im Internet nämlich, wo der junge Ben Wheatley mit einem kleinen Clip unglaubliche Viewerzahlen erreicht. Und das noch in der Zeit vor Youtube. Wheatleys Video „cunning stunt“ zeigt einen Freund beim gewagten Sprung über ein Auto, that’s it. Für den Regieanfänger ist es der Sprung zum Fernsehen. Für die BBC macht er Comedy-Sketches, daneben entsteht 2009 sein erster Spielfilm.

„Down Terrace“, eine tiefschwarze Low-Budget-Komödie, in einer Woche mit Freunden in deren Wohnungen gedreht, ist wegweisend für Ben Wheatleys Folgearbeiten. Der Regisseur zelebriert bereits in seinem Debüt wüstes Gangsterkino, aber es reicht ihm nicht, wie sein Kollege Guy Ritchie artifizielle Kinoganoven aufeinander loslassen.

Der Schrecken entspringt der Normalität

Wheatley möchte unbedingt auch etwas über den echten Alltag wirklicher Krimineller erzählen. Er will eine Trostlosigkeit zeigen, wie man sie aus Milieus der britischen Regieveteranen Ken Loach und Mike Leigh kennt. Oder aus österreichischen Filmen von Ulrich Seidl. Rabenschwarzer Humor und Genre-Zitate treffen auf Alltagstristesse.

Ein Mann sitzt auf einem Bett und hat eine Waffe in der Hand

Studio Canal

„Kill List“

Unglaublich eindringlich gelingt ihm diese Mischung in „Kill List“, seinem Durchbruchswerk, das 2011 international Aufsehen erregt. Zwei Familienväter aus der abstürzenden Mittelklasse verkaufen sich darin als Auftragskiller, um den häuslichen Pool und teures Kinderspielzeug zu finanzieren. Grimmiger britischer Realismus kollidiert mit Hardcore-Thriller-Momenten, am Ende gewinnt dann blanker Okkult-Horror die Überhand. Für den Schreiber dieser Zeilen immer noch einer der gruseligsten Filme der Zehnerjahre.

Ein Mann und eine Frau auf einem Campingplatz

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„Sightseers“

Mit „Sightseers“ untermauert Ben Wheatley damals seinen Ruf als Shootingstar des britischen Horrorkinos. Ein grotesker Serienkiller-Klamauk, bei dem einem das Lachen meistens in der Kehle steckenbleibt. Das Komikerpärchen Alice Lowe und Steve Oram überzeugt als nerdiges Durchschnittspärchen auf einem blutigen Roadtrip durch England.

Wieder entspringt der Schrecken aus der Normalität. Ben Wheatley und seine großartige Co-Autorin (und Lebensgefährtin) Amy Jump wohnen eben in keinem Hollywood-Elfenbeinturm, sie verstehen die Typen im Pub nebenan - und ihre schäbigen, schattigen Seiten.

Keiner kommt hier lebend raus

Aber Ben Wheatley ist mit seinem Image als Regisseur nicht zufrieden. Das Schwarz-Weiß-Experiment „A Field in England“ vermischt dann unerwartet deftige, britische Komik à la Monty Pythons mit psychedelischen Bildern und halluzinogenen Szenen. Ein extrem billig gefilmter Historienfilm der windschiefen Art, eine weirde Fingerübung, auf den dann ein Opus Magnum von Ben Wheatley folgt.

„High-Rise“ entwirft nach dem gleichnamigen Kultroman von J.G. Ballard eine dystopisches Bild einer nahen eiskalten Zukunft, im Setting eines Luxus-Wolkenkratzers. Dabei spielt der futuristische Film, wie das Buch, in den 1970er Jahren. Neben unbekannteren Stammschauspielern und Charaktergesichtern bietet „High-Rise“ erstmals echte Stars in einem Wheatley-Werk, Tom Hiddleston, Sienna Miller und Jeremy Irons sind dabei.

Drei Männer mit Pistolen liegen lachend am Boden

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„Free Fire“

Große Namen bedeuten aber nicht, dass sich der Regisseur kommerziellen Sehgewohnheiten unterwirft. Ben-Wheatley-Filme stecken immer voller Widerhaken, ob dramaturgisch oder was ihre schmerzhaften Inhalte betrifft, auch wenn „Free Fire“, sein Hollywood-Debüt, Ben Wheatley plötzlich als Actionregisseur präsentiert. Mit der Hilfe von Co-Produzent Martin Scorsese versucht sich der Brite an einer besonderen Aufgabenstellung: Nimm ein abgelegenes Lagerhaus und konfrontiere darin eine Gruppe IRA-Soldaten mit einer schmierigen Waffendealer-Gang. Frei nach dem Motto: Keiner kommt hier lebend raus.

Filmfreunde bleiben kopfschüttelnd zurück

Wenn zum Einstieg von „Free Fire“ funkige Retro-Rocksongs ertönen, während die illustre Truppe lässig einmarschiert, zweifelt man kurz an der Originalität des Ganzen. Quentin Tarantino lässt grüßen. Aber dann biegen Ben Wheatley und Amy Jump in andere Richtungen ab.

Der Nonstop-Shoot-out orientiert sich einerseits an Aussagen von Zeugen echter Schusswechsel und bietet maximalen Realismus. Auf der anderen Seite flackern immer wieder stilisierte Momente auf, wo man an Italowestern und Sam-Peckinpah-Klassiker denkt. Untermalt vom fantastischen Score von Geoff „Portishead“ Barrow wirkt dieses Blutbad elegant, komisch und eklig zugleich.

Ein Mann und eine Frau in einer grünen Landschaft lachen sich an

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„Rebecca“

And now for something completely different. Ist „Rebecca“ der Sellout im Schaffen von Ben Wheatley, den Fans nie erwartet hätten? Meint es der Regisseur ernst, wenn er in Interviews von einem bewussten Manifest für die Liebe spricht? Hätte man die True Romance im Hause de Winter nicht intensiver, glühender, leidenschaftlicher in die Gegenwart versetzen können? Viele Fragen, die Filmfreunde kopfschüttelnd zurücklassen.

Demnächst beginnt der einstige Horrorfilmer Wheatley an seinem ersten Blockbuster zu arbeiten: „Tomb Raider 2“. Vom verstörenden Terror zu Lara Croft: Das ist wirklich ein ungewöhnlicher Weg.

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