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Viennale Eröffnung 2020

APA/HERBERT NEUBAUER

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Die Viennale 2020 als große Schwammerljagd

Unter Anwesenheit der Regisseurin des Eröffnungsfilms „Miss Marx“, Susanna Nicchiarelli, wurde am Donnerstag die 58. Ausgabe der Viennale eröffnet. Festivaldirektorin Eva Sangiorgi preist Kino als physischen Ort und Bundespräsident Alexander Van der Bellen ruft die Filmschaffenden zum Durchhalten auf. Ein erster Einblick in das Viennale-Geschehen. Herzlich Willkommen zum FM4 Viennale-Tagebuch!

Von Philipp Emberger

Als Kind im Salzburger-Land habe ich gelernt, dass es gute Schwammerljahre gibt und dass es Jahre gibt, in denen die Pilze im Wald einfach nicht gefunden werden wollen. Ein guter Ort für filmische Edelpilze ist aber jedes Jahr die Viennale und weil in diesem ungewöhnlichen Jahr Pilze das Viennale-Plakat zieren, wird dieser erste Eintrag des Viennale-Tagebuchs mit einer Schwammerlmetapher eröffnet.

Eine Sache, die ich beim Schwammerlsuchen als Kind gelernt habe, ist, dass Pilze meist in großer Konzentration an einem kleinen Platz auftauchen. Ganz anders bei der gestrigen Viennale-Eröffnung im Gartenbaukino. Die Besucher*innen sind verstreut, das Foyer ist nahezu verwaist. Neben dem Gartenbaukino wurde ein Zelt aufgebaut, um mehr Platz zu bieten. Und auch im Kinosaal gilt es Abstand zu halten. Mit blauen Viennale-Paketbändern sind die Sitze abgesperrt, die freibleiben müssen. Das wahre Geschenk ist aber nicht die neugewonnene Ellbogenfreiheit, sondern das Gefühl bei einem physischen Filmfestival zu sein. Diese Freude ist den ganzen Abend über zu spüren und hier bei FM4 Kollegen Johnny Bliss zu hören.

Omnipräsentes Thema

Zum dritten Mal betritt Eva Sangiorgi an diesem Abend als Leiterin der Viennale die Bühne. Auf dieser gilt an diesem Abend übrigens eine strenge Choreografie. Moderatorin des Abends, ZiB-Host Nadja Bernhard, darf nicht denselben Bühnenabgang wie der Bundespräsident benutzen. Ansteckungsgefahr. Um diese zu minimieren, wird nach den einzelnen Redner*innen artig das Mikrofon desinfiziert. Mutter, der Mann mit dem Desinfektionsmittel ist da.

Die Eröffnungsreden sind dann auch erwartungsgemäß geprägt vom Thema Coronavirus. Eva Sangiorgi erinnert darüber hinaus an andere große Probleme der Welt wie Krieg, Hunger und Zensur. Schließlich sei es Aufgabe der Kinos, darauf aufmerksam zu machen. Außerdem war es ihr wichtig, dass die Viennale als physisches Festival stattfindet. Für sie sind digitale Räume stets nur Ausweichzentren.

Viennale Eröffnung 2020, Eva Sangiorgi

APA/HERBERT NEUBAUER

Kulturstadträtin Veronika Kaup-Hasler redet dann gegen die Angst an und beschwört den verstorbenen Christoph Schlingensief, dem dieses Jahr eine umfangreiche Monografie gewidmet ist. Sie erinnert sich an die Zeit vor 20 Jahren, als die Stadträtin noch nicht Stadträtin, sondern bei den Wiener Festwochen war. Zu dieser Zeit war Big Brother noch neu und die Regierung aus Schwarz-Blau noch ein Skandal. Mein Herz hüpft an dieser Stelle, es wird wohl das erste und gleichzeitig letzte Mal sein, dass Big Brother bei einer Viennale-Eröffnung erwähnt wird. Stadträtin Kaup-Hasler fühlt sich zurückversetzt in diese Zeit der sozialen Kälte und plädiert dafür, dass Social Distancing zu Physical Distancing wird. Die Viennale als Fest der Nähe. Im Herzen zumindest.

Viennale Eröffnung 2020, Bundespräsident Alexander van der Bellen

APA/HERBERT NEUBAUER

Bundespräsident Alexander Van der Bellen will mit seinem Appell wohl auch einen Platz im Herzen der Festivalbesucher*innen. Er appelliert an die Filmschaffenden, in dieser so schwierigen Zeit für die Filmbranche durchzuhalten. Es ist wohl nicht die hoffnungstiftendste Rede des Abends, aber Van der Bellen betont einmal mehr die Wichtigkeit des Films und der Filmszene.

„Love is complicated, Revolution is complicated“

Susanna Nicchiarelli, Regisseurin des Eröffnungsfilms „Miss Marx“, betritt die Bühne und beschwört die Widerstandskraft der Kinos.

Ende des 19. Jahrhundert steht Eleanor „Tussy“ Marx (gespielt von Ramola Garai) vor dem Grab ihres Vaters, dem kommunistischen Übervater Karl Marx und hält ein Loblied auf die makellose Ehe ihrer Eltern. Der politische Kampf blieb ebenso wie die letzte Partie Schach mit der Haushaltshilfe unvollendet. Nun liegt es also an der jüngsten von drei Töchtern, dieses Erbe anzutreten und sich für bessere Bedingungen für die Arbeiterklasse einzusetzen.

Viennale Eröffnung 2020, Regisseurin Susanna Nicchiarelli

APA/Herbert Neubauer

Regisseurin Nicchiarelli zeigt in dem Biopic die persönliche Geschichte von Eleanor Marx. Dabei wird deutlich, dass es eine Geschichte der Widersprüche ist. Während sie für die Unabhängigkeit und die Rechte der Arbeiter*innen kämpft, unterwirft sie sich selbst ihrem verschwenderischen und narzisstischen Ehemann, dem erfolglosen Autor Edward Aveling (Patrick Kennedy). Ich muss an die Worte von Susanna Nicchiarelli vor knapp einer Stunde denken: „Love is complicated, Revolution is complicated.“ Oh, dio mio, wenn beide aufeinander treffen.

Zwischen den Szenen im Film sind schwarz-Weiß-Bilder montiert, die auf den Kampf gegen die Umgehung von Gesetzen durch Industrielle und die Gefährdung der Gesundheit der Mitarbeiter*innen, aufmerksam machen sollen. Den Vergleich zur heutigen gesellschaftlichen Situation mag jetzt bitte jede*r für sich selbst ziehen.

Zu hören ist in dem Film übrigens auch die punkigste Version der Internationalen, die es wohl je in einem Film gegeben hat. Die Musik in dem Kostümdrama-Biopic ist generell bewusst als Irritation gesetzt. Punk meets Fréderic Chopin, Franz Liszt im Uptempo.

Miss Marx

Celluloid films

Ramola Garai als Eleanor Marx

Eleanor Marx wird mit ihrer tragischen Geschichte im dem Film umfangreich gewürdigt, als Kämpferin, Sozialistin und Feministin, kurz, als eine beeindruckende Persönlichkeit.

Bei all den Schwierigkeiten gibt es auf der Viennale bis 1. November zumindest ein Stück weit cineastische Normalität und die Pilzsuche im Programm möge beginnen. Pia Reiser hat hier übrigens schon einen Guide zusammengestellt. Ich werde die Pilzmetapher jetzt zumindest bis zum Abschlussfilm „The Truffle Hunters“ wieder ruhen lassen. Der begleitet italienische Männer bei der Trüffelsuche. Obwohl mein Trüffelwissen eher bescheidener Natur ist, freue ich mich drauf. In diesem Sinne: Happy Viennale!

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