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Claudia und ihr Sohn Daniel in "Jetzt oder Morgen", Filmstill

Viennale

Überraschendes und Versäumtes im Viennale-Tagebuch #4

Morgen ist bereits der letzte Tag der diesjährigen Viennale, deshalb muss ich diesen Eintrag des Tagebuchs dazu nutzen, um bisher Versäumtes nachzuholen. Dazu gehören eine wunderbare Diagonale-Kollektion und ein überraschender Überraschungsfilm.

Von Philipp Emberger

Die Viennale 2020 auf FM4

Das letzte Viennale-Wochenende ist angebrochen und bevor ich mich hier im Tagebuch all den Dingen widme, die ich bis jetzt vernachlässigt habe, noch ein kleiner Hinweis: Heute Abend findet um 23.00 Uhr im Gartenbaukino das Screening des von FM4 präsentierten Films „Kajillionaire“ von Miranda July statt. Sehenswert!

July zeigt in diesem Film eine dysfunktionale Familie im sonnigen Los Angeles, die sich mit kleinen Betrügereien, Gewinnspiel-Teilnahmen und Geschenke-Coupons über die Runden schlagen. Auf Zärtlichkeit und Nähe muss Old Dolio (Evan Rachel Wood), die Tochter von Theresa (Debra Winger) und Richard (Richard Jenkins), verzichten. Der österreichweite Start für „Kajillionaire“ ist für den 5. November vorgesehen, but who knows.

Filmstills aus Miranda Julys "Kajillionaire"

Viennale

Betrügerein in Miranda Julys „Kajillionaire“

Viggo Mortensen und der Überraschungsfilm

Um emotionale Ganoven im weitesten Sinne (ich gebe zu, die Brücke ist vielleicht etwas lang) geht es dann auch in einem der Viennale-Highlights: dem Überraschungsfilm. Im halb-ausverkauften Gartenbaukino haben sich Filmfans versammelt, um einen Film anzusehen, von dem sie gar nicht wissen, welcher Film es ist. Viennale-Leiterin Eva Sangiorgi betritt die Bühne, verrät den Film aber auch nicht, weil jetzt ist es auch schon egal, die paar Minuten werden wir noch warten können. Ein paar Informationen gibt es dann aber doch noch: 115 Minuten dauert der Film, gezeigt wird er im Originalton mit deutschen Untertiteln und - das ist das am wenigsten überraschende nach mehreren Tagen Viennale – bitte den Mund-Nasen-Schutz während der gesamten Vorstellung im Gesicht behalten.

Das Rätsel dauert dann auch noch etwas an, bis schlussendlich ein großer Name auf der Leinwand erscheint: Viggo Mortensen. Es handelt sich beim diesjährigen Überraschungsfilm nämlich um das Regiedebüt „Falling“ des Schauspielers. Wir sehen Viggo Mortensen mit einem älteren Herren, der desorientiert im Flugzeug umherstreift und eine Frau sucht. In der nächsten Szene sehen wir das Ehepaar Gwen und Willis mit ihrem kleinen Sohn John und es wird klar, dass hier in den nächsten Minuten eine größere Geschichte mit zumindest zwei Zeitebenen erzählt wird.

Die Geschichte wird aus der Perspektive Johns (gespielt von Viggo Mortensen) erzählt. Mortensen hat neben Drehbuch, Regie auch noch die Hauptrolle übernommen, das war allerdings gar nicht geplant. Mortensen wollte, um genügend Aufmerksamkeit für den Film zu bekommen, einen großen Namen im Cast haben und diese Rolle schließlich selbst ausgefüllt.

Weiter im Film: John wohnt mit Ehemann und Tochter in Kalifornien, während sein demenzkranker Vater Willis noch in NY State wohnt. Zu Beginn des Films holt John seinen schroffen Vater, dessen Erkrankung immer öfter Auswirkungen auf den Alltag hat, zu sich und muss sich im Austausch dafür eine tägliche Tirade an homophoben, rassistischen und sexistischen Äußerungen abholen.

Plakat "Falling"

Filmladen

Der Film „Falling“ soll österreichweit am 27.11.2020 in den Kinos starten

In „Falling“ verarbeitet Viggo Mortensen einen Teil seiner eigenen Familiengeschichte (Stichwort: Stockente und Schlange) und zeigt auf emotional so fesselnde Art und Weise, wie sich eine entfremdete Vater-Sohn-Beziehung im Alltag anfühlt. Die 115 Filmminuten lang brodelt es emotional auf der Leinwand, immer in der Erwartung, dass John seinen Vater endlich in die Schranken weist und ihm die Stirn bietet: für mich definitiv eines der Viennale-Highlights und ein mehr als gelungenes Regiedebüt von Viggo Mortensen. Die Karten für den Überraschungsfilm habe ich übrigens aus Versehen gekauft, weil ich mich auf der Website verdrückte habe. Ziemliches Glück im Nachhinein.

Filmische Perlen der Diagonale-Kollektion

Emotional auf andere Art hat es bei einem österreichischen Film bereits im Vorfeld gebrodelt. Noch bevor der Film überhaupt irgendwo gelaufen ist, hat „The Trouble With Being Born“ von Sandra Wollner die Meinungen gespalten. Bei einem australischen Filmfestival wurde er schließlich wieder ausgeladen. Der Film der österreichischen Regisseurin Sandra Wollner ist gemeinsam mit fünf anderen Spielfilmen und mehreren Kurzfilmen über eine eigene Diagonale-Kollektion in das Filmfestival gerutscht.

Für mich jetzt der ideale Zeitpunkt, um die erstmalige Zusammenarbeit der beiden größten österreichischen Filmfestivals, der Diagonale und der Viennale, zu erwähnen. Nach der Absage der Diagonale im März, hat Eva Sangiorgi die Diagonale-Leiter Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger kontaktiert, und herausgekommen ist eine erstmalige inhaltliche Zusammenarbeit. In der Diagonale-Kollektion sind dann auch wirklich einige filmische Perlen zu entdeckten, unter anderem der bereits erwähnte Film „The Trouble With Being Born“.

In dem ästhetisch sehr anspruchsvollen Spielfilm erkundet Regisseurin Wollner das Zusammenleben zwischen Mensch und Roboter. Der Roboter ist dargestellt als weiblich-kindliches Wesen. Die Meinungen gespalten hat der Gewinnerfilm der Diagonale 2020 unter anderem deshalb, weil Kritiker*innen ihm vorwerfen, in einigen Szenen mit Pädophilie zu kokettieren. Unter anderem darüber hat Kollege Christian Fuchs mit Regisseurin Sandra Wollner in der Homebase-Spezialsendung zur Viennale gesprochen.

Szenenbild "The trouble with being born"

viennale

Das roboterhafte Mädchen aus Wollners Film „The Trouble With Being Born“

Ein weiterer filmischer Edelpilz aus der Diagonale-Kollektion ist der Dokumentarfilm „Jetzt oder Morgen“ der Regisseurin Lisa Weber. Als komplettes Gegenprogramm zu „The Trouble With Being Born“, beschäftigt sich Weber hier mit sehr konkreten Ausprägungen menschlichen Verhaltens. Über mehrere Jahre hat sie eine Wiener Familie aus bildungsferner Schicht mit der Kamera ihrer Präsenz begleitet.

Im Mittelpunkt der Alltagsdoku steht Claudia, die mit 15 Jahren Mutter wurde und gemeinsam mit ihrem Sohn Daniel, Bruder Gerhard, Mutter Gabi und später ihrem Freund Marvin in einer Mini-Wohnung in Wien wohnt. Es wird getschickt, es wird gezockt und es werden Ausreden gesucht – und gefunden – warum es mit dem Job nicht klappt. Trotzdem schlachtet Weber das Leid der Familie nicht sensationslüstern aus und gönnt ihnen auch liebevolle, einfühlsame Momente. Weber ist einfach dabei (und räumt auch schon mal die Wohnung um) und das ist auch die Magie des Dokumentarfilms. Der Filmstart ist für Frühjahr 2021 vorgesehen.

Heute und morgen bleibt noch die Möglichkeit, entweder in die Kollektion der Diagonale hineinzuhüpfen oder einen anderen Film aus dem Viennale-Programm zu sehen. Abgeschlossen wird die Viennale dann mit botanischer Note, nämlich mit einer Doku über das Trüffelsuchen, aber dazu morgen im Abschlusseintrag des FM4-Viennale-Tagebuchs mehr!

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