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Buch

„Unheimlich nah“ von Johann Scheerer erzählt vom Erwachsenwerden unter Personenschutz

Johann Scheerer verarbeitet in seinem zweiten Roman die Entführung seines Vaters und erzählt die außergewöhnliche Geschichte des Erwachsenwerdens mit Personenschutz.

von Alica Ouschan

Der Hamburger Musiker und Produzent Johann Scheerer hat vor drei Jahren seinen Debütroman „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ veröffentlicht. Er beschreibt darin, wie er die Zeit der Entführung seines Vaters, des deutschen Sozialforschers Jan Philipp Reemtsma erlebt hat. Die Reemtsma-Entführung hat sich 1996 ereignet, die Täter waren der Deutsche Thomas Dach und seine drei Komplizen. Nach 33 Tagen ist Reemtsma nach einer Lösegeldübergabe freigelassen worden, die Täter wurden anschließend alle gefasst und zu Haftstrafen verurteilt.

Anfang dieser Woche ist mit „Unheimlich nah“ der Fortsetzungsroman von Johann Scheerer erschienen. Es ist eine autobiografische Nacherzählung über die Jahre nach der Entführung, über das Leben und Erwachsenwerden eines Jugendlichen, der unter ständiger Beobachtung von Personenschützern steht und vergebens versucht, ein ganz normales Leben zu führen.

Freund oder Feind?

Johann ist 14, als sich sein Leben für immer verändert. Jeder seiner Schritte wird verfolgt, und wenn er das Haus verlässt, muss er es der sogenannten Sicherheitszentrale 10 Minuten vorher melden. Auf jeder Party, auf dem Weg zur Schule oder im Urlaub, immer befindet sich Johann in ständiger Begleitung dieser Männer, die einerseits faszinierend und gleichzeitig bedrohlich auf ihn wirken. Obwohl in der Schule alle von der Entführung seines Vaters wissen, versucht Johann diese Tatsache verzweifelt geheim zu halten und will einfach ein normaler Teenager sein. Während sich seine Freizeitaktivitäten und Sozialkontakte fast ausschließlich auf die Sicherheitsmänner beschränken, die ihn auf Schießstände mitnehmen und ihm Selbstverteidigungstechniken beibringen, unternimmt er erste Dating-Versuche und versucht mit seiner Indie-Rock Band Am kahlen Aste durchzustarten.

„Mittlerweile waren wir alle 15, und uns war klar, wenn wir nicht bald das erste Mal ins Studio gingen, würde der Karrierezug abgefahren sein.“

Buchcover Unheimlich nah

Piper Verlag

Unheimlich nah hat 331 Seiten und ist im Piper Verlag erschienen.

Johanns Band bekommt schließlich sogar einen Plattenvertrag bei einem Major Label, die Band wird kurzerhand in Score! umbenannt, weil das internationaler klingt - und geht auf Tour. Auch da sind die Personenschützer natürlich immer und überall mit dabei. Anstatt seine Jugend zu genießen, findet sich Johann in einem Konstrukt aus Notlügen über sein Leben wieder. Er lässt niemanden an sich heran, er wird immer verschlossener und seine Beziehung zu seinen Eltern verschlechtert sich zusehens. Richtige Freunde hat er nicht.

Johann ist gefangen, in der gedanklichen Spirale seines gut behüteten, priviligierten Vorstadtlebens (denn wer kann sich schon über Jahre hinweg einen Haufen bestens ausgebildete Personenschützer leisten?), das für ihn das Gegenteil von Freiheit und grenzenlosen Möglichkeiten darstellt. Er hinterfragt ständig seine Beziehung zu den Sicherheitsmännern. Sie sollen Sicherheit verkörpern, sorgen aber für ständige Angst und Anspannung und werden zur ultimativen Bedrohung.

"Woher weiß ich eigentlich, dachte ich plötzlich, dass die Typen im Wagen hinter mir wirklich die Guten sind?“

Versöhnung mit sich selbst

Johann Scheerer hat mit „Unheimlich nah“ die Geschichte seiner außergewöhnlichen Adoleszenz niedergeschrieben und sie dabei beeindrucken nahbar herübergebracht. Neben der offensichtlichen Bearbeitung des moralischen Dilemmas zwischen Freiheit und Sicherheit und der Reflektion der eigenen Privilegien ist das Buch gleichzeitig die Aufarbeitung des Traumas, das durch die Entführung und ihre Nachwirkungen heute noch die Beziehungen der Familienmitglieder überschattet. „Unheimlich nah“ ist die Annäherung an eine Versöhnung mit sich selbst, als Sohn eines Entführten.

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