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Louise Juhl Dalsgaard "Genug"

Picus Verlag

Louise Juhl Dalsgaard schreibt über Anorexie

Essen muss der Mensch doch ebenso, wie er atmen muss: um zu leben. Die Dänin Louise Juhl Dalsgaard hat in „Genug“ darüber geschrieben, wie jemand, der noch ein Kind ist, immer weniger sein will.

Von Maria Motter

Bei einem Sing- und Bewegungsspiel kommt das Mädchen durcheinander. Erwischt nicht rechtzeitig die Knie, denen sie etwas später Namen geben wird. Der Bezug von Geist und Körper scheint dem Kind in Louise Juhl Dalsgaards Prosadebüt „Genug“ nicht abhandengekommen zu sein, er fehlt dem Mädchen regelrecht.

Wie Louise Juhl Dalsgaard über Anorexie schreibt, ist sehr besonders. Hervorragend schildert sie das Erleben zwischen Kindheit und junger Erwachsenenzeit, die kindliche Geborgenheit beim Großvater ebenso klar wie die Grobheit mancher Männer bei Dates mit Anfang 20. Es gibt kleine Momente fundamentaler Verunsicherung und Erschütterung, die Erwachsenen gar nicht auffallen, und auch lustige Bemerkungen, wie zu einem faulen Dackel, um den man einen Umweg machen müsse, weil er behandelt wird, als stünde er unter Denkmalschutz.

Die sehr intelligente Ich-Erzählerin reflektiert Kindheit und Jugend: In diesen Jahren verliert sie zwanzig Kilo und das Gefühl in ihren Fingerspitzen, sie bekommt eine Sozialarbeiterin, Spitalseinweisungen und einen Therapieplatz auf einem Reiterhof. „Das hat mir gerade noch gefehlt.“

Louise Juhl Dalsgaard "Genug"

Picus Verlag

„Genug“ von Louise Juhl Dalsgaard ist 2021 im Verlag Picus erschienen.

Von Betroffenheitsprosa ist keine Spur. Dalsgaard hat lakonische Pointen drauf und für die Absurdität des Lebens eine schön nachsichtige Beobachtungsgabe. Liebenswert ist der Bruder, der mit der Post Joints, Bücher über Giraffensprache und gewaltfreie Kommunikation an Therapieplätze schickt. Tragisch ist manches, ein großes Trauma gibt es nicht, auch wenn die Sozialarbeiterin vermerkt, dass die Patientin mit dem Hungern dem Erwartungsdruck und der Metakommunikation ihrer Eltern zu entkommen versucht.

Im Buch wird die Perspektive der jungen Frau von Auszügen aus Protokollen von Sozialarbeiterin und Ärzt*innen unterbrochen. Die professionelle Darstellung wirkt als Korrektiv, aber auch als Protokoll der Überforderung. Sie sei doch eine zartere Persönlichkeit und Ursachen ziemlich unerheblich, ist da zu lesen: „Daher meine ich, dass sie essen MUSS, und schlage ihr vor, dass sie umgehend damit beginnt“.

Als die Ich-Erzählerin mit Anfang Zwanzig ihre Krankenakte anfordert, lacht die Sekretärin der Klinikabteilung herzlich und verweist darauf, dass die Kopierkosten das Budget sprengen würden. Es ist ganz einfach nie genug, doch die Ich-Erzählerin lernt, sich zu arrangieren. Amüsant und treffsicher ist ihre Abrechnung mit den ersten Liebhabern und folgenden Dates.

Eidechsen-Jahre

Telefonische Unterstützung
147 ist in Österreich die Telefonnummer von Rat auf Draht.
Unter 0800 201120 ist die Hotline für Essstörungen der Wiener Gesundheitsförderung von Montag bis Donnerstag, zwischen 12 und 17 Uhr, erreichbar und anrufen kann man aus ganz Österreich.

In „Genug“ fügt sich eine Erzählminiatur an die nächste und die Autorin hat mehr zu erzählen als von einer Krankheit. Sie braucht dafür nur wenige Worte. „Genug“ ist nicht durchgängig wie ein klassischer Roman geschrieben, aber die einzelnen Passagen greifen ineinander. Dalsgaard baut in fünf, sechs Zeilen eine ganze Geschichte und die Welt eines Menschen auf, ob dieser nun der achtjährige Klassenkollege oder ein 95-jähriger Mann ist. Liebenswert, doch auch eisern zu sich selbst präsentiert sich die Erzählstimme.

Mit Fieber stellt sie sich vor, eine Eidechse zu sein, die den Schwanz verliert. Diese Metapher ist auch ein Schlüssel zum Miss-Verstehen von Essstörungen: Man könne auch so leben, wie eine Eidechse ohne Schwanz, hält die junge Frau fest, aber Trost liege darin keiner.

Where Is My Mind? - Ein FM4 Schwerpunkt zum psychischen Wohlbefinden

Der Begriff „Mental Health“ ist insbesondere auf den jungen Social Media Kanälen wie TikTok oder Instagram allgegenwärtig. Das Virus und die Lockdown-Maßnahmen führen zu psychischem Unwohlsein. Warum das so ist, und vor allem was man dagegen tun kann, darüber berichtet Radio FM4 eine ganze Woche lang in einer umfangreichen Schwerpunktwoche.

Vom 22. Februar bis zum 27. Februar auf allen Kanälen von FM4

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