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Wohnhaus

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MARC CARNAL

Warum kritisiert niemand diese grässlichen Häuser?

Es wäre dringend an der Zeit für wütende Wohnbau-Verrisse und architektonische Shitstorms.

Eine Kolumne von Marc Carnal

Was auch immer du in die Welt setzt, es wird kritisiert. Ob du einen experimentellen Entwicklungsroman über eine langjährige Komapatientin schreibst, der vom Spiegel als “schleppend, nahezu langatmig” verrissen wird, ein neues Aggrotech-Doppelalbum produziert, das laut Fans längst nicht so gut ist wie dein erstes Aggrotech-Doppelalbum, oder mit dem eigenen Menstruationsblut Portraits von kurdischen Freiheitskämpferinnen malst und bei der Vernissage in ratlose Gesichter starrst. Alles, aber auch wirklich alles wird kritisiert! Bring einen neuen Vinegar-Schokoriegel auf der Markt - die Leute werden ihn hassen. Programmier einen Schneeballschlacht-Egoshooter - die Kids auf Twitch lachen dich aus. Servier zu wenig Madeira-Reduktion zum Lammkarree - schon heißt es auf Google “EINMAL UND NIE WIEDER”. Schlenz im Cupfinale den Ball aus fünf Metern mit dem Außenrist schön lässig am leeren Tor vorbei - man wird dir den Tod wünschen. Mach antisemitische Witze im Fernsehen und nenn es “Provokation” - sogar das wird kritisiert! Was auch immer du machst, produzierst, leistest, sagst, schreibst oder erfindest, es wird immer kritisiert werden. Und das ist auch gut so.

Nur…
Wer kritisiert eigentlich all die grässlichen Häuser?
Tag für Tag saust irgendwo in der Stadt eine Abrissbirne in die altehrwürdigen Ziegelmauern eines herrschaftlichen Gründerzeithauses. Schon bald häufen sich tonnenweise Schutt und Staub, wo gerade noch prächtiger Stuck eine dekadent vergilbte Fassade zierte.

Ein halbes Jahr später steht an seiner statt ein mächtiges Stahlbeton-Gerippe, das auf großen Transparenten bereits um das Interesse der Spekulanten und Miethaie wirbt, und ehe man sichs versieht, ist das Wohnhaus “bezugsfertig”. Es sieht genau so, aber wirklich exakt so aus wie all die anderen neuen Wohnhäuser, die das Stadtbild zusehends zu dominieren drohen. Alles ist so fantasielos, unwürdig und kühl wie die Banken-Manager und Immobilienfond-Betreuer, die solche Mietwucher-Kästen errichten lassen. Diese Häuser sind immer weiß, haben schwarzen Plastikfenster und winzige Balkone mit schwarzen Gitterstäben davor, eine Dachgeschoss-Sauna mit schwarzem Plastikdach und sind gnadenlos funktional vom Keller bis zum First. Manchmal sind sie auch cremefarben, haben weinrote Fenster oder graue Gitterstäbe. Das war es dann aber auch mit den äußerlichen Variationen.

Niemand findet diese Häuser schön. Niemand sagt: Wow, DA würd ich gern wohnen. Niemand wird in ein paar Jahrzehnten beim Anblick eines solchen Hauses innehalten und in Sentimentalitäten schwelgen. Ja, die bedrückend uniforme Wohnbau-Architektur der Siebziger war auch furchtbar. Aber die war wenigstens so richtig derb DDR-hässlich und nicht so kühl und feig wie die die zeitgenössischen Wohnquader, die allerorts aus dem Stadtboden gestampft werden.

Das Leben ist kein 3D-Rendering!

Gibt es unter Architekt*innen eigentlich sowas wie eine Berufsehre? Man hat doch nicht jahrelang Architektur studiert, um dann immer und immer wieder exakt deckungsgleiche Häuser für irgendwelche dummen Banken zu entwerfen! Braucht man für diese entsetzlichen Neubauten von der Stange denn überhaupt jedes Mal ein neues Architekturbüro?

Wenn eine Einkaufsstraße verkehrsberuhigt, begrünt und verschönert wird, zieht diese zweifellos gute Maßnahme jahrelange politische Diskussionen, wütende Anrainer-Proteste und geifernde Aufstände der “betroffenen” Geschäftsleute nach sich. Wird aber das tausendste Raiffeisen-Einheitshaus anstelle eines majestätisch schönen Altbaus errichtet, hört man keinerlei Kritik.

Leider kein Meisterwerk der Architekturkritik, aber ansonsten relativ gut ist der Sammelband „Die 7 Säulen des Glücks“, den man sich im FM4-Shop bestellen kann.

Es gibt ja auch kein Medium dafür. Im Vorbeiflanieren schimpfe ich gerne über solche Scheißhäuser, aber mein Zetern bekommt entweder mein Gegenüber mit oder - falls ich ohne Gegenüber unterwegs bin - jene Fremden auf der anderen Straßenseite, die mich dann für verrückt halten. Ein breiteres Publikum erreiche ich nicht damit. In klassischen oder unklassischen Medien hat Architekturkritik keinen Platz. Dabei wäre es mehr als angebracht, all die entsetzlichen Bürogebäude aus Panzerglas, pseudo-mondänen Hotels und Spekulanten-Mietshäuser regelmäßig wortreich zu verreißen, die opportunistischen Architekturbüros mit Shitstorms zu bedenken, die Einheits-Fassaden neben antifaschistischen auch mit architekturkritischen Parolen zu besprayen und das allgemeine Bewusstsein für lieb- und einfallslose Bausünden langsam zu schärfen.

Also: Falls irgend so eine bürgerliche Tageszeitung ein bisschen Budget übrig und Interesse an einem gnadenlosen Wohnbau-Architektur-Ressort hat: I’m your man.

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