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Studie

Die Sehnsucht nach Nähe in einer gespaltenen Gesellschaft

Weniger Sex, Dating im Freien und eine gespaltene Gesellschaft: Eine aktuelle Studie zeigt, was Lockdown 2.0 mit unseren Beziehungen gemacht hat

Von Ambra Schuster

Zu Beginn des ersten Lockdowns vor gut einem Jahr war da das Gefühl einer solidarischen Gemeinschaft, in der abends vom Balkon gesungen wird oder Held*innen beklatscht werden. Das belegte schon vergangenen Frühsommer eine Studie zu Intimität und sozialen Beziehungen im ersten Lockdown. Die Ergebenisse haben wir damals hier zusammengefasst. Im zweiten Lockdown startete die Studienautorin, Soziologin und Sexualpädagogin Barbara Rothmüller eine Folgeerhebung. Und die zeigt - so harmonisch wie vor einem Jahr ist unser Zusammenleben längst nicht mehr, die Stimmung ist spätestens im zweiten Lockdown gekippt.

Riss durch die Gesellschaft

Viele Menschen verloren aufgrund der Pandemie soziale Kontakte, oder beendeten sie auch ganz bewusst. Der Grund dafür waren oft Meinungsverschiedenheiten zu den Pandemie-Maßnahmen. Ihr Konfliktpotential zog sich ab dem Sommer quer durch Familien, Freundeskreise und das Arbeitsumfeld. Es kam zu einer Entsolidarisierung und einer Polarisierung der Bevölkerung, sagt Barbara Rothmüllervon der Sigmund Freund Universität. Anstelle der „kollektiven Bewältigungsstrategie“ rückte Selfcare in den Fokus, wie die Ergebnisse ihrer aktuellen Studie zeigen.

Für die von den Soziologinnen Barbara Rothmüller und Laura Wiesböck durchgeführten Studie „Intimität, Sexualität und Solidarität in der Covid-19 Pandemie“ wurden von 10. November bis 10. Dezember vergangenen Jahres 2.569 Personen in Österreich (78 Prozent) und Deutschland (22 Prozent) online befragt. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, da Frauen und Akademiker über-, Jugendliche hingegen unterrepräsentiert sind.

Hinzu kommt der Irrglaube, dass man sich bei manchen Menschen leichter ansteckt als bei anderen, weshalb sich gewisse Bevölkerungsgruppen sozial isoliert sehen. Gemieden werden vor allem Personen, die sich a) aus welchem Grund auch immer nicht an die Corona-Maßnahmen halten, b) in sogenannten „Risikoberufen“ arbeiten (Polizist*innen, Lehrer*innen, Menschen in Gesundheitsberufen, etc.) oder c) zu ohnehin marginalisierten Gruppen gehören (Obdachlose, Suchtkranke).

Auch junge Menschen werden aufgrund von Ansteckungsängsten verstärkt gemieden. Gleichzeitig hat ein Fünftel der Unter-30-Jährigen starke Schuldgefühle, dass sie jemanden angesteckt haben könnten.

Lustlosigkeit: Weniger Sex, mehr Nähe

Die meisten Menschen genießen nach wie vor ihre Beziehungen, das hat sich zwischen erstem und zweitem Lockdown nicht geändert. Das Bedürfnis nach Nähe und Berührungen ist ungebrochen groß, allerdings schlägt sich der Pandemie-Stress auf die sexuelle Lust. Während die Menschen ihre sexuelle Kreativität im ersten Lockdown noch mit Sextoys und Co. ausgelebt haben, ist auch das zurückgegangen. „Zu Beginn der Pandemie waren alle sehr aktiviert, aber mittlerweile sind viele Menschen einfach erschöpft, vor allem Frauen. Und das macht natürlich auch etwas mit dem sexuellen Begehren“, sagt Barbara Rothmüller.

Corona-Babys? Fehlanzeige!

Auch die Familienplanung wurde bei vielen Paaren auf Eis gelegt. Doppelt so viele Personen haben angegeben, ihren Kinderwunsch aufgrund der Pandemie aufgeschoben zu haben, als einen Kinderwunsch entwickelt zu haben. Teils aus finanziellen Sorgen, teils weil sie es nicht für vertretbar halten, in der Pandemie ein Kind in die Welt zu setzen. Oft fehlt auch der Partner, die Partnerin für den Kinderwunsch, für queere Befragte ist wiederum der Zugang zu künstlichen Befruchtungsmöglichkeiten erschwert.

Fix Zsamm

Über den Sommer haben sich immerhin mehr Paare gefunden als getrennt. Aus lockeren Angelegenheiten wurde in Richtung Lockdown 2.0 oft etwas Ernstes. Wobei sich vor allem bei jüngeren Menschen unter 30 der Beziehungsstatus geändert hat. Die Beziehungen von älteren Personen blieben stabiler. „Bei jüngeren Menschen gab es zwischen erstem und zweitem Lockdown teils massive Umbrüche, was die Partnerschaften, aber auch Freundschaften und Vertrauenspersonen betrifft“, sagt Barbara Rothmüller.

„Bei jüngeren Menschen gab es zwischen erstem und zweitem Lockdown teils massive Umbrüche.“

Dating-Flaute

Wer im Sommer nicht fündig wurde, hatte im Lockdown 2.0 schlechte Karten. Online-Dating auf Tinder, Bumble & Co ist nicht jedermanns und jederfraus Sache. Im Herbst herrschte deshalb oft Ratlosigkeit, wie man jemanden unter Lockdown-Bedingungen kennenlernen kann. Für 9 von 10 Personen auf Partner*innensuche hat sich verändert, wie sie daten. Insgesamt hat sich die Anzahl an Personen, die man datet, auf jeden Fall reduziert. Das erste persönliche Kennenlernen war bei vielen ein Spaziergang mit Maske oder frisch getestet. Einige haben vor allem länger gechattet und wollten reden. Manche hätten auch einfach pausiert und warten auf bessere Zeiten, so Rothmüller.

In der Erhebung wurde deutlich, dass die politischen Maßnahmen vor allem auf monogame Paarbeziehungen zugeschnitten waren und sind. Vor Weihnachten hieß es schließlich auch, dass Tinder-Dates nicht als Bezugspersonen zählen. Viele Singles, aber auch polyamor-lebende Menschen, fühlten sich durch die Maßnahmen nicht berücksichtigt und in ihrer Sexualität diskriminiert. Ihr Dating- und Sexleben wurde moralisiert, sie mussten sich im Bekanntenkreis rechtfertigen, wenn sie auf Partner*innensuche oder auf Tinder & Co unterwegs sind.

Singles, Frauen und queere Personen stark belastet

Vor allem Singles und frisch getrennte Personen sind in der Pandemie stark psychosozial belastet. Sie sind oft einsam und leiden unter dem Entzug von körperlicher Nähe. Es entwickle sich ein regelrechter „Hauthunger“ nach Umarmungen und Berührungen, so Rothmüller. Bei der Hälfte der befragten Singles lag der letzte Körperkontakt zum Zeitpunkt der Befragung bereits drei Monate zurück. „Man kann sich vorstellen, wie sich der Entzug von Nähe und Berührungen über den Winter aufgebaut hat“, sagt Barbara Rothmüller.

An der Befragung haben auch rund 350 queere Personen teilgenommen. Sie haben zwischen erstem und zweitem Lockdown weiter und verstärkt den Kontakt zu ihren Communities und Vertrauenspersonen verloren. Gleichzeitig sind sie in der Pandemie nach wie vor und sogar verstärkt von Diskriminierung betroffen. Zum Beispiel, wenn sie mit ihrem Partner, ihrer Partnerin auf der Straße unterwegs sind und ihnen nicht geglaubt wird, dass das die enge Bezugsperson ist, die sie ja treffen dürfen. Neben Frauen sind vor allem auch transgender Personen „massiv“ psychosozial belastet. Jede fünfte Frau hatte in der Pandemie mindestens eine Panikattacke, unter transgender Personen war es sogar die Hälfte.

Weniger Freunde, mehr Familie

Auch Freundschaften haben ein hartes Jahr hinter sich. Sie wurden durch die Lockdowns am meisten beeinträchtigt. 70 Prozent der Befragten hatten im zweiten Lockdown sowohl digital als auch persönlich weniger Kontakt zu Freund*innen. Die meisten konzentrierten sich Pandemie-bedingt auf einen sehr kleinen Kreis an Freund*innen. Oft ging aber sogar der Kontakt zu sehr engen Freund*innen verloren, weil man kaum etwas gemeinsam unternehmen konnte. Fast die Hälfte empfand telefonieren und chatten darüber hinaus als mühsam.

„Frauen sind stark belastet. Sie federn einen Großteil der emotionalen und psychosozialen Folgen der Pandemie ab.“

Der Fokus lag dafür umso mehr auf der Familie und dem Partner, der Partnerin. Wobei die Hauptlast der Care-Arbeit sowohl in als auch außerhalb der Familie auch im zweiten Lockdown von Frauen getragen wurde. „Frauen sind stark belastet. Sie federn einen Großteil der emotionalen und psychosozialen Folgen der Pandemie ab und sind nach einem Jahr Pandemie entsprechend erschöpft.“

Zwischen Lockdown 1.0 und Lockdown 2.0 haben sich die psychosozialen Belastungen in weiten Teilen der Bevölkerung vertieft. Statt Solidarität herrscht Polarisierung vor. Ob es eine weitere Folgeerhebung wegen eines dritten Lockdowns gibt? Wir hoffen nicht.

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