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Buchcover "Wir bleiben noch" mit einem Nilpferd drauf, vor türkisem Hintergrund

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Landpartie mit Nelken

Daniel Wissers neuer Roman „Wir bleiben noch“ erzählt eine durch und durch österreichische Familiengeschichte. Erbstreitigkeiten, Tod, Schnitzel und jede Menge politischer Zeitgeschichte inklusive.

Von Daniel Grabner

In etwa beginnt „Wir bleiben noch“ wie der berühmteste Wanda Song: „Ich kann sicher nicht mit meiner Cousine schlafen, obwohl ich gerne würde, aber ich trau mich nicht“. Doch während sich das lyrische Ich in Bologna nicht traut, mit der Cousine zu schlafen, hat Daniel Wissers Protagonist Victor Jarno da keine Skrupel.

Nachdem die Cousine, die jahrelang als Pathologin in Norwegen gearbeitet hat, zurück nach Österreich kommt, sehen sich die beiden bei der Geburtstagsfeier der „Urli“ wieder. Man hat sich seit den frühen Teenagerjahren nicht mehr getroffen, die Freude ist groß, auch eine gewisse Vertrautheit stellt sich sofort ein. Victor, ein etwas verschrobener, aber liebenswürdiger Wiener Mitte 40, der sich gerade von seiner Frau Iris trennt und Karoline (ebenfalls Mitte 40), die von ihrem Mann in Norwegen geghostet wurde, verlieben sich und lösen damit einen mittelgroßen Familienskandal aus. Vor allem die Eltern der beiden können diese „kranke“ und „perverse“ Beziehung nicht akzeptieren. Die Sache spitzt sich weiter zu einem Rechtsstreit zu, als die Urli - Victors Großmutter - stirbt und Victor deren Haus am Land vererbt. Das wollen die Eltern von Victor und Karoline nicht akzeptieren. Bis die Sache gerichtlich geklärt ist, ziehen Cousin und Cousine in das Haus der verstorbenen Großmutter und versuchen, sich familiär isoliert und aller Widerstände zum Trotz ein neues Leben aufzubauen. Weihnachten und Geburtstage verbringen sie zu zweit. Es ist hart, aber sie haben einander. Gerade die Geschichte dieser neuen und noch brüchigen Liebe zwischen Victor und seiner Cousine ist grandios erzählt.

Ein Familienroman aus Österreich

Daniel Wisser beleuchtet in seinem Familienroman die Geschichte von vier Generationen der Familie Jarno. Diese ursprünglich durch und durch sozialdemokratisch geprägte Familie hat sich über die Generationen mehr und mehr kleinbürgerlichen Wohlstand erarbeitet; die Großeltern haben durch ein entbehrungsreiches Leben ihren Kindern das Studieren ermöglicht. Ein besseres Leben, sozialer Aufstieg im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs der 60er, 70er und 80er Jahre, es ging voran.

Im Zentrum der Erzählung steht Victor, dessen Eltern ihn nach Victor Adler benannt haben, und der von sich selbst behauptet, der letzte Sozialdemokrat zu sein. Und tatsächlich wirkt Victor wie ein Relikt. Sein Vater, der ebenfalls ein glühender Sozialist war, hat sich (so munkelt man in der Familie) mit der alten Wehrmachtspistole des Großvaters erschossen. Victors Mutter, immer noch Parteimitglied bei der SPÖ, hat bei der Bundespräsidentschaftswahl 2016 für den Kandidaten der FPÖ gestimmt, Victors Tante Margarete, die einst gegen den Vietnamkrieg protestierte, hat schon 85 Waldheim gewählt und Karolines Schwester Hanna fürchtet sich seit der Flüchtlingskrise 2015 vor der sogenannten „Islamisierung des Abendlandes“. Nur die Großmutter war unbeugsame Sozialdemokratin bis zum Ende.

Mitgliedsbuch der Sozialistischen Partei Österreichs, jetzt: Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ), 1955, Beitragsnachweis 1955 und 1956

Wikimedia Commons / Dnalor 01 / CC BY-SA 3.0 AT

Mitgliedsbuch der Sozialistischen Partei Österreichs (jetzt: Sozialdemokratische Partei Österreichs - SPÖ) 1955, CC BY-SA 3.0 AT

Geschichten aus der Vergangenheit

Zum Leidwesen seiner Mitmenschen hat Victor einen Hang dazu, Anekdoten und kleine Geschichten immer und immer wieder zu erzählen. Geschichten aus der Vergangenheit von provisorischen Panzersperren, die die Großmutter im Dorf gegen die einmarschierenden Russen errichten musste oder vom Goldschatz eines Wieners, den die Großmutter kurz vor Kriegsende half, im Nachbarsgrundstück zu vergraben und der dann nicht mehr wiedergefunden werden konnte. Aber Victor ist auch ein Reservoir vieler kleiner Fußnoten aus der österreichischen Zeitgeschichte. Vor allem Geschichten der österreichischen Sozialdemokratie: Dass Karl Seitz einmal eine Audienz bei Kaiser Franz Josef hatte, weil dieser einen echten Sozialdemokraten sehen wollte, oder dass die Ziegel der Ringstraßen-Gebäude in Wien allesamt von Tschechischen Lohnarbeitern gebrannt wurden, die Victor Adler unentgeltlich medizinisch behandelte.

Generation X gegen Boomer

"Wir bleiben noch" von Daniel Wisser - Cover mit schwarzweißem Nashorn

Luchterhand

„Wir bleiben noch“ von Daniel Wisser ist im Verlag Luchterhand erschienen.

Doch mit der Gegenwart scheint Victor abgeschossen zu haben. Die Handlung des Romans reicht vom September 2018 bis zum Oktober 2019. Ein Jahr, in dem die Türkis-Blaue Regierungskoalition nach dem Ibiza Skandal platze. Diesem politischen Skandal begegnet Victor nur mit Resignation. Während Karoline voller Aufregung die Nachrichten verfolgt, ist er von ihrer Freude angewidert. Die Konflikte in diesem Familienroman sind auch Generationenkonflikte. Victor und Karoline können nicht verstehen, wie ihre Eltern ihre politischen Ideale verraten konnten. Die politischen Entwicklungen in Österreich der letzten fünf Jahrzehnte werden auf dieser familiären Ebene auch in Form von erbitterten Streitereien über politische Positionen verhandelt. Generation X gegen Boomer.

Doch als die Generation von Victors Mutter und Tante Margarete in ihrer Jugend ihre Scheinideale ausgelebt hatte, wählte sie Rechtsparteien und forderte Scheinmoral, die sie an ihren Eltern kritisiert hatte, neuerdings von ihren Nachkommen. Dabei sprach sie über ihre Jugend so wenig wie die Kriegsgeneration, der sie ihr Schweigen immer zum Vorwurf gemacht hatte. (S. 265)

Doch was ist eigentlich mit diesem Victor los? Als selbsternannter letzter Sozialdemokrat kümmert er sich wenig um die Gegenwart, für die er höchstens ironische Witze übrig hat. Zu diesem resignativen Kulturpessimismus hinzu kommt ein zunehmender Rückzug aus dem sozialen Leben. Victor meldet sein Smartphone ab, am besten nur noch Holz hacken, Karl Kautsky und Dostojewskij lesen. Die Erkenntnis kommt spät, erleichtert dann aber doch:

Seine Generation war schuld daran. Er, Victor Jarno, hatte seit den 90er-Jahren nichts getan, um diese Entwicklung aufzuhalten. Im Gegenteil: Er hatte wie viele andere zugeschaut, wie die Sozialdemokratie sich immer mehr den bürgerlichen Parteien annäherte […].“ (S. 413)

Für „Die Königin der Berge“ wurde Daniel Wisser 2018 mit dem österreichischen Buchpreis ausgezeichnet.

Witz und Endzeit

Der Roman blendet die innenpolitischen Entwicklungen Österreichs über die Geschichte einer Familie. Gesellschaftliche Umbrüche, der Rechtsruck nach dem Flüchtlingsjahr 2015, doch auch der sukzessive Wählerschwund der SPÖ in den letzten Jahrzehnten, das Fehlen einer wirkungsvollen und verbindenden sozialdemokratischen Vision und deren Ursachen und Wirkungen. Hat die Sozialdemokratie ausgedient? Ist sie ein veraltetes Konzept, das den Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr gewachsen ist? „Die haben einfach nicht die richtigen Leute zurzeit“, sagt Victors Mutter auf die Frage, warum sie nicht sozialdemokratisch wählt. Victors Antwort: „Es geht um die Sache, nicht um Personen.“

„Wir bleiben noch“ ist Familienroman, Geschichte einer Liebe und der Versuch einer Zeitdiagnose. Bei all dieser Thematik bewahrt Daniel Wisser in dem Roman Leichtigkeit, Witz und Drive. Vielleicht liegt das an der lustvollen Überzeichnung seines Protagonisten oder der einfühlsam erzählten Liebesgeschichte. Trotzdem: Eine eigentümliche Endzeitstimmung durchzieht den Roman, der wie ein langer Abschied von Zeiten wirkt, die angeblich einmal besser waren. Es ist vielleicht dasselbe Gefühl, das sich einstellt, wenn man mal wieder inmitten eines der großen Gemeindebauten in Wien steht, dem Karl Marx- oder dem Reumannhof etwa, dieser zu Festungen gewordenen sozialen Idee. Man möchte dann gerne noch etwas bleiben.

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