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Prophetisch: „New York Ghost“ von Ling Ma

Im Jahr 2018 - lange vor dem ersten Covid-19-Fall - hat die amerikanische Autorin Ling Ma einen Roman über eine Pandemie veröffentlicht, der erschreckend akkurat ist und fast schon prophetisch anmutet.

Von Christian Pausch

„In der Anfangsphase lässt sich das Shen-Fieber schwer diagnostizieren. Frühe Symptome beinhalten Gedächtnislücken, Kopfschmerzen, Desorientiertheit, Atemnot und Müdigkeit. Da diese Symptome oft irrtümlich für eine normale Erkältung gehalten werden, ist den Patienten häufig nicht bewusst, dass sie am Shen-Fieber leiden. Sie können einsatzfähig wirken und noch immer routinemäßig alltägliche Arbeiten verrichten. Allerdings werden sich diese Anfangssymptome verschlimmern.“

Was in diesem Absatz beschrieben wird, ist nicht von der aktuellen Pandemie inspiriert, denn das Buch, aus dem diese Beschreibung stammt, ist schon im Jahr 2018 erschienen, also fast eineinhalb Jahre vor dem Ausbruch von Covid-19. Die US-amerikanische Schriftstellerin Ling Ma beschreibt in „New York Ghost“ (Originaltitel: „Severance“) eine Pandemie, die der echten oft gespenstisch gleicht.

Im Roman bricht das Shen-Fieber aus, eine Krankheit, deren Ursprung in China vermutet wird und die sich von dort aus wie ein Lauffeuer über die ganze Welt ausbreitet. Protagonistin Candece Chen lebt in New York City und nimmt die ersten Nachrichten über die neue „Grippe“, wie all ihre Freund*innen, nicht allzu ernst. Immerhin muss sie mit dem hübschen Nachbarn flirten, ihren Blog „NY Ghost“ mit Fotos befüllen und WG-Partys schmeißen.

New York Ghost

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„New York Ghost“ von Ling Ma ist in einer Übersetzung aus dem Englischen von Zoë Beck bei Culturbooks erschienen.

Homeoffice, Masken und Lockdowns

Doch die Lage ändert sich rasend schnell und plötzlich ist die Stadt New York Hochrisikogebiet. Die Timeline der Geschehnisse gleicht oft so genau dem Verlauf der Covid-19-Pandemie, dass man beim Lesen Gänsehaut bekommt:

„In einer Rundmail stand, dass es von nun an Firmenpolitik für alle Angestellten war, im Büro N95-Masken zu tragen (vorher war dies nur eine Empfehlung gewesen).“ Oder: „Wenn die Vereinigten Staaten dieselbe Situation vermeiden wollten, erklärte der bloggende Arzt, sollte das Land ganze Regionen unter Quarantäne stellen, besonders während Thanksgiving, Weihnachten und anderen Feiertagen, die üblicherweise Massenreisen auslösten.“

Und an anderer Stelle: „Alle wollten zu Hause bleiben, in vermeintlicher Sicherheit, oder zurück in ihre Heimatstädte, um von dort aus zu arbeiten. Spectra reagierte darauf wie andere Firmen, die sich mit denselben Forderungen konfrontiert sahen, und bot ein Homeoffice-Programm an.“

Die letzte Person in NYC

Candace, deren Eltern früh gestorben sind, kann nirgendwo anders hin und entscheidet sich, so lange wie möglich in New York zu bleiben und die Stellung in ihrer Firma zu halten. Im Gegensatz zu Covid-19 wird das Shen-Fieber durch Pilzsporen übertragen und ausgelöst, die bei den Betroffenen zu Gedächtnisverlust und repetitivem Handeln führen. Wie Zombies laufen die Infizierten durch die Stadt, und bald ist Candace die einzige Nicht-Infizierte unter ihnen. Auf ihrem Tumblr „NY Ghost“ postet sie fortan Fotos von der verwahrlosten Stadt, so lange, bis das Internet plötzlich den Geist aufgibt.

Wenn ein Pferd über den Times Square läuft, und niemand ist da, um es zu sehen, ist es dann wirklich passiert?

Als sich Candace eines Tages unabsichtlich aus ihrem Büro ausschließt, wo ihre Essensvorräte lagern, wird es auch für sie Zeit zu fliehen. In einem ikonisch-gelben Taxi fährt sie so lange, bis der Tank leer ist, mitten in ein ausgestorbenes Amerika hinein, wo sie ausgehungert und erschöpft von einer Gruppe Überlebender aufgegriffen wird. Was zuerst wie ihre einzige Rettung erscheint, wird zunehmend zum Horrortrip und zum zweiten großen Handlungsstrang des Romans.

Autorin Ling Ma

Culturbooks

Ling Ma wurde in China geboren, wuchs in den USA auf und lebt in Chicago. „New York Ghost“ ist ihr Debütroman, der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde.

Ein Roman gegen den Kapitalismus

Ling Ma verbindet in „New York Ghost“ den Schrecken einer globalen Bedrohung mit all den Problemen, die davor schon da waren und auch danach nicht gelöst sind: Sie schreibt über den alles zerfressenden Kapitalismus, das rassistische Unsichtbar-Machen von Migrant*innen und auch - oft mit überraschend trockenem Witz - über das Lebensgefühl von Millennials, irgendwo zwischen Leistungsdruck und Weltschmerz.

Ein empfehlenswerter Roman, der besonders da Staunen erzeugt, wo er unserer aktuellen Lebensrealität am nächsten kommt. Die deutsche Übersetzung hinkt manchmal stark und, wenn möglich, sollte man sich das englische Original hernehmen, falls man insgesamt noch nicht genug hat von Pandemien. Immerhin, so kann man am Ende beruhigt feststellen, sind uns Zombies erspart geblieben.

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