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Es geht nicht vorbei in James Scudamores Roman „English Monsters“

Loyalität und Freundschaft, Missbrauch und Gewalt. James Scudamore schreibt in seinem Roman „English Monsters“ über die desaströsen Zustände eines englischen Internats und deren Auswirkungen auf das spätere Leben der damaligen Schüler.

Von Lisa Schneider

„See you, my princes and my noble peers, these English Monsters“: So führt Henry V. im gleichnamigen Stück von Shakespeare seine Verräter vor. Loyalität wird hochgehalten und von der Obrigkeit, hier dem Königshaus, edelmütig eingefordert. Very british.

Das ist auch Max Denyer, Protagonist in James Scudamores Roman „English Monsters“. Aber seine Erfahrungen als „Teil der letzten Generation, die eine bestimmte Art von Engländertum erlebte“, sind nicht nur von aufrichtigem Zusammenhalt, sondern vor allem von Gewalt, Scham und sexuellem Missbrauch geprägt.

Der junge Max verbringt die Sommermonate bei seinen Großeltern auf einer alten Farm in den Midlands. Während des Schuljahres lebt er mit seinen Eltern in Mexiko, der Vater ist dort mit seiner Arbeit für ein Konsumgüterunternehmen reich geworden. Weil der Arbeitgeber für die Ausbildungskosten der Kinder seiner Angestellten aufkommt, wird Max in einem traditionsreichen, englischen Internat eingeschrieben. „Die Schule auf dem Berg“, wie sie genannt wird, liegt nicht weit entfernt vom großelterlichen Anwesen. Es ist so ein Ort, an dem die englische Elite herangezogen und vor allem die Träume der Eltern von der erfolgreichen Zukunft ihrer Kinder ausgebaut werden sollen.

Zu früh jung gewesen

Die Handlung des Romans beginnt 1986, Max Denyer ist 10 Jahre alt. Es ist das Jahr, in dem in England die körperliche Züchtigung in Schulen verboten wird. Für Privatschulen wird dieses Gesetz aber erst 1998 beschlossen.

So sind die Schüler der willkürlichen Brutalität des Lehrkörpers ausgesetzt, mehr als die anderen wird der Geschichtslehrer Eric Weathers „Weapons“ Davis gefürchtet. Sein Zorn bricht unvermittelt und nicht selten unverhofft über sie herein. Der pilotenbrillentragende Ex-Soldat tobt sich an den 10-jährigen Freunden aus, die noch nicht begreifen, ob das, was passiert, nun Recht oder Unrecht bedeutet. „Ich fühlte mich zum Schweigen verpflichtet wie durch die Bedingungen eines Vertrages, dabei konnte ich mich nicht erinnern, diesen Vertrag je unterschrieben zu haben.“

Buchcover James Scudamore "English Monsters"

Hanser Blau

„English Monsters“ von James Scudamore erscheint in der deutschen Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann im Verlag Hanser Blau.

Komplizenschaft, Lausbubenstreiche, langsames, mühevolles Erwachsenwerden. Das gewaltbereite und vor allem -tolerierende System der Schule wird den Kindern eingeimpft, auch indem sie in ihrer Freizeit gezwungen werden, Spiele wie „Hasenjagd“ zu spielen. Dabei wird eine Handvoll Schüler als Hasen, der Rest von ihnen als Jäger bestimmt. Wer als Hase mit einem aufgeschundenen Knie davonkommt, hat Glück gehabt.

Die Eltern wissen wenig bis nichts. Als Angehörige der Upper Class gehen sie davon aus, dass ihre Kinder zu „kleinen Lords und Ladies“ erzogen werden. Die Briefe, die die Schüler schreiben, werden vom Lehrpersonal gelesen und gegebenenfalls nicht abgeschickt.

Weil James Scudamore wie auch sonst in seinem Roman das Offensichtliche umgeht, wird schnell klar, dass die fast schon karikaturistisch überzeichnete Figur des Lehrers Weathers Davis nicht einmal die schlimmste von allen ist. Die Grauzonen, in die wir mit „English Monsters“ eintauchen, beziehen sich nicht nur auf die Erinnerungs- und Aufarbeitungsarbeit der damaligen Kinder, sie beziehen sich auch auf die Charakterzeichnungen. Der Roman ist vor allem dann sehr gut, wo er einen Haken schlägt und nicht in die Ecke zielt, die man erwartet hätte.

Erinnerung: eine unstete Sache

Der Autor James Scudamore hat ebenfalls ein englisches Internat, eine sogenannte „prep school“, besucht. Im selben Alter wie sein Protagonist Max Denyer, mit dem er sich außerdem das Geburtsjahr teilt. In einem Interview erzählt der Autor, dass es ihm in seinem Roman unter anderem darum ging, zu erforschen, wie Erinnerung sich entwickelt.

Die Erinnerungen von Max und seinen Freunden verändern sich anhand äußerer Einflüsse, anhand der Menschen, die sie kennenlernen und anhand dessen, woran sie unabhängig voneinander glauben möchten. Dabei bleibt die Gegenwart nie ganz frei von der Vergangenheit. Erst spät, er ist schon über 20, erzählt Max Denyer seinen Eltern und Großeltern davon, was in der Schule vor sich ging. Es scheint so unfassbar, dass er dabei lachen muss:

„Ich erzählte ihnen, dass ich nach der Sache mit der Telefonzelle wochenlang keine Faust machen konnte. Dass Weapons Davis Jungen gern die Treppe hinunterwarf und sie gegen die Wand presste. Dass Sutton bekanntlich sogar eine Reitgerte benutzte. Dann erzählte ich nicht nur, was mir selbst widerfahren war, sondern schilderte die schlimmeren Prügel, die Luke und die anderen bekommen hatten. Erst als ich auf den armen Neil zu sprechen kam, merkte ich, dass ich zu weit gegangen war.“

Leseempfehlungen

Ähnliche Thematik, ähnlich gut: Alexander Chee mit „Edinburgh“.

Und ungeschlagen: Hanya Yanagihara mit „Ein wenig Leben“.

James Scudamore erzählt die Geschichte von Max und seinen Freunden Luke, Ish und Simon in Zehnjahresschritten. Er holt weit aus und braucht sowohl die erzählte Zeit als auch die Erzählzeit, weil die Dynamiken von Macht und Machtmissbrauch sich im Buch nur langsam entfalten. Von den ehemaligen Kindesfreunden versucht jeder auf seine Art, mit dem Geschehenen umzugehen, ohne die Scham abschütteln oder das Mitleid der anderen annehmen zu können. „Es gibt keine Lösung. Es geht nicht vorbei“, sagt Simon später einmal zu Max.

„English Monsters“ heißt auch das Videospiel, das sich Max und Simon als junge Teenager ausdenken, als sie im Unterreicht zum ersten Mal von Shakespeares „Henry V.“ hören. Simon, schon immer Computernerd, wird es später erfolgreich auf den Markt bringen. Ausgangs- und Handlungspunkt des Spiels ist die Schule, die ehemaligen Lehrer werden von Zombies, Mumien oder ähnlichen Kreaturen verkörpert.

"Ich habe es natürlich als Spukhaus dargestellt und nicht als Schule. Das Problem ist, es weiß nicht, ob es ein Ego-Shooter oder ein RPG (Anm.: „Role Playing Game") sein will. Viele Entwickler finden, man muss sich zwischen Gewalt und Rollenspiel entscheiden, aber ich sehe nicht ein, warum man nicht beides haben kann.“

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