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Rolling Stones Schlagzeuger Charlie Watts an den Drums

APA/dpa/Ursula Düren

ROBERT ROTIFER

Charlie Watts, 1941-2021

Das hier gilt nicht wirklich als Nachruf. Es sind bloß ein paar Punkte, aufgeschrieben vor Sonnenaufgang beim Kurzurlaub in einem front room in Wales bei Freund*innen, schnell bevor alle aufwachen, aus Anlass des gestrigen Todes des Rock’n’Roll-Schlagzeugers Charlie Watts im Alter von achtzig Jahren.

Von Robert Rotifer

1) Die Leute haben keine Ahnung

Jetzt, wo Charlie Watts tot ist, werden die Leute, die sich auskennen, uns allen erzählen, dass er einer der Größten war. Da haben sie auch recht, aber ich kann mich noch relativ gut an eine Zeit erinnern, als sie das Gegenteil zu behaupten pflegten.

Die Stones, sagten sie damals (so vor 35, 40 Jahren, als ich Teenager war und mir hin und wieder von Typen mit größeren Plattensammlungen die Welt erklären ließ), seien eigentlich „die härteste Rockband der Welt“, wäre da bloß nicht ihr Schlagzeuger, dieser Charlie Watts. Wie könne eine so große Band wie die Stones einen so langweiligen Drummer haben, der auf seinem mickrigen Kit nie irgendwelche spektakulären Fills spielt? Wo seien hier die Paradiddles?

Ja, ich sehe noch gut den Auskenner, einen Musikalienhändler aus der großen Rock’n’Roll-Stadt Wien (Sarkasmus-Emoji) vor mir, der mir erklärte, Charlie Watts beherrsche doch nicht einmal den simpelsten Beat, denn er lasse jedesmal, wenn er auf die Snare-Drum schlage, die Hi-Hat aus. Auf die Idee, dass das Weglassen eines Schlags ein essentieller Teil des Grooves sein könnte, wäre der Auskenner natürlich nie gekommen.

Die Leute, die damals behaupteten, Charlie Watts sei kein guter Drummer, waren immer auch die, die dasselbe von Ringo Starr sagten. Sie, deren musikalisches Bezugs-Universum mehr oder minder von jenen zwei Typen rhythmisch abgesteckt worden war, wussten es selber viel besser. Die Leute, lernte ich irgendwann daraus, haben keine Ahnung.

Rolling Stones 1965 in schwarzweiß

APA/AFP

Die Rolling Stones im Juli 1965 in London: Charlie Watts ganz links, der 1969 verstorbene Gitarrist Brian Jones daneben, Keith Richards, Mick Jagger und Ex-Bassist Bill Wyman

2) Den Backbeat kannst du nicht verlieren

Das sang bekanntlich Chuck Berry, von dem die Rolling Stones fast alles lernten, in seinem Song „Rock and Roll Music“, und es war 1957, als er den Song schrieb, keine unwesentliche Feststellung.

Jahrzehntelang hatten die Jazz-Schlagzeuger (Schlagzeugerinnen wie Viola Smith waren aus Rollenverhaltensgründen verschwindend selten) ihre Snare-Trommel als dekoratives Instrument für Breaks verwendet, während die Hi-Hat kontinuierlich den Swing zum Tanzen lieferte. Die Idee, mit der Snare den Backbeat zu markieren, gleichzeitig den Swing aus der Hi-Hat zurückzunehmen und so jenes Kopfnicken, Knie- und Hüftwippen zu erzeugen, das vom Beat über Rock und Disco bis zum Hip Hop das Körpergefühl von Generationen prägen sollte, setzte sich nicht augenblicklich, sondern fließend durch.

1961, als der knapp 20-jährige Grafiker und Jazz-Liebhaber Charlie Watts der Band Blues Incorporated des damals schon 33-jährigen, in Paris geborenen, jüdisch-österreichisch-griechisch-türkischen Immigranten Alexis Korner beitrat, galt dieser rhythmische Zugang in London immer noch als neuartiges Konzept.

Auf Youtube findet sich eine Aufnahme der BBC-Radio-Sendung Jazz Club vom Juli 1962, als Alexis Korner’s Blues Incorporated auf Einladung des großen britischen Bandleaders Humphrey Lyttelton eine Live-Session spielten, die die Welt des afrikanisch-amerikanischen Rhythm & Blues in einer ehrfurchtsvollen, weißen Nachempfindung in die britischen Wohnzimmer beförderte. Der Backbeat kam dabei von niemand anderem als Charlie Watts, und man hört, dass sein Hi-Hat-Spiel zu diesem Zeitpunkt immer noch stark im jazzigen Swing verankert ist.

Am Abend jener Radio-Session konnten Blues Incorporated ihren Auftritt im Londoner Marquee Club nicht wahrnehmen und wurden stattdessen von einer noch unbekannten Band namens The Rolling Stones vertreten (deren Schlagzeuger war dabei vermutlich ein gewisser Tony Chapman, aber der konnte sich später selbst nicht dran erinnern). Jene jungen Neuankömmlinge sollten den erfahreneren Watts erst im Jahr danach für ihr Line-Up gewinnen. Wenn ich nun gerade im (ansonsten sehr guten) Nachruf des Guardian lese, dass die Stones ihrem Drummer erst das Rocken erklären hätten müssen, dann fühle ich mich gleich wieder auf Punkt 1 zurückgeworfen.

Die Sache ist ja, dass Charlie Watts auch nachdem er seine Hi-Hat dem Rock’n’Roll zuliebe begradigt und reduziert hatte, nie wirklich zu swingen aufhörte. Und deshalb blieben die Stones auch immer jenes erstaunlich seltene Biest: Eine Rockband, zu der man tatsächlich tanzen konnte.

3) Der Sex kam aus der Snare

Wenn die Leute von den Stones reden, reden sie unvermeidlich vom Sex. Sie beschreiben dann etwa die diversen konkurrierenden Modelle maskuliner bis androgyner Sexiness, verkörpert von Mick Jagger, Keith Richards und Brian Jones. Dabei wären all deren Posen ohne den richtigen Beat dazu natürlich vollkommen lächerlich gewesen.

Einen Tag vor Charlie Watts’ Tod wäre der 1978 verstorbene Keith Moon 75 Jahre alt geworden. Man stelle sich bloß einmal vor, Mick Jagger hätte nicht zu Watts’ vermeintlich trockenen, aber eigentlich saftigen Beats, sondern zu Moons endlosen Rolls seinen kleinen Bohnenhintern schwingen müssen - und man begreift augenblicklich, wie sehr Jaggers ganze Persona von der Snare des Charlie Watts geprägt wurde.

Die Snare des Charlie Watts nämlich kommt nicht nur verlässlich knackig, sondern tendenziell auch immer ein wenig zu spät, und genau darin liegt jene satte Qualität des Stones-Sounds, von „Satisfaction“ über das leider unerträglich rassistisch-sexistische „Brown Sugar“ bis hin zu „Miss You“ und „Emotional Rescue“. Ja selbst dort, wo Watts antreibt („Let’s Spend The Night Together“, „Get Off Of My Cloud“, „Jumpin’ Jack Flash“), lehnt er sich gleichzeitig auch zurück.

Hätte es zu der Zeit, als jene Platten aufgenommen wurden, schon Click Tracks und Software wie ProTools oder Logic gegeben, dann hätte man wohl Charlies Beats an ihren vermeintlich richtigen Platz gerückt und damit den eigentlichen Sex aus dem Sound der Stones entfernt. Denn der Sex kam in Wahrheit nicht aus Jaggers Hüften oder Lippen, sondern aus Charlie Watts’ später Snare.

(Und das war, im Gegensatz dazu, was die Leute aus These 1 dachten, kein Es-nicht-besser-Wissen, sondern eine bewusste Entscheidung – wie man zum Beispiel daran hören konnte, dass Charlie Watts nebenher hobby-mäßig mit seinem Quintett oder Big Bands, in den letzten Jahren oft auch mit Jools Holland Jazz oder Boogie Woogie spielte und dabei gänzlich andere Grooves pflegte. Und zwar immer mit dem impliziten Wissen, dass andere sowas wohl besser konnten).

4) Coolness hat einen langen Atem

Die Tatsache, dass Charlie Watts seit Oktober 1964 mit der Liebe seines Lebens (Shirley) verheiratet war, die er schon vor seiner Zeit bei den Stones kennengelernt hatte, und dass er sich auf Tour – soweit man weiß – nie in die von seinen Bandkollegen kultivierten, von dubiosen, sexuellen Machtverhältnissen charakterisierten Groupie-Exzesse involvierte, erscheint erst heute im Nachhinein als cool. Zu den großen Zeiten der Stones hielt man sowas dagegen eher für ein bisschen spießig (auch hier siehe Punkt 1).

Auch dass Charlie Watts immer der bei weitem bestangezogene Rolling Stone war, hat sich übrigens erst in den letzten zwanzig Jahren herumgesprochen.

5) Die „Nenn mich niemals wieder deinen Drummer“-Anekdote muss vorkommen

Wie geht sie gleich, die Geschichte, wer hat sie noch nicht gelesen? Kurzfassung: Stones waren auf Tour, zugekokster Jagger ruft mitten in der Nacht Watts’ Zimmertelefon an und jodelt "Where’s my drummer?“ in die Muschel. Stunden später steht Watts in voller Montur, Anzug, Krawatte und Stecktuch vor Jaggers Zimmertür, semmelt dem Sänger einen rechten Haken ins Gesicht und bemerkt dazu lakonisch: „Nenn mich nie wieder deinen Schlagzeuger.“

Ist eine Anekdote, die die Leute gerne lesen, weil sie genießen, dass der arrogante Jagger darin auf seinen Platz verwiesen wird. Und weil sie den Eindruck bestätigt, dass hinter der Fassade von Charlie Watts’ Zurückhaltung in Wahrheit ein richtiger Kerl steckte, der sich notfalls mit der Faust auszudrücken wusste.

Letzteres ist im echten Leben aber eigentlich nie sympathisch, und Watts selber war auch nicht stolz darauf, sondern meinte später, er hätte Jagger nie körperliche Gewalt angetan, wenn er zu jener Zeit (Anfang der Achtziger) nicht selbst dem Alkohol und anderen schweren Drogen verfallen wäre.

Und trotzdem liegt in der Geschichte und nicht zuletzt in Watts’ weniger verlässlich überlieferter Zusatzpointe "You’re my fucking singer“ eine tiefe Wahrheit. Siehe Punkt 3, siehe aber auch das gern vergessene Detail, dass der ausgebildete Grafiker Watts sich immer sehr aktiv an der Gestaltung des Bühnenbilds für Stones-Tourneen beteiligte. Es ginge wohl zu weit, ihn als den Schlagzeuger in der Rolle des Regisseurs/Dramaturgen zu bezeichnen. Aber nur ein bisschen zu weit.

6) Das Wetter in Massachusetts

Im April dieses Jahres interviewte ich den berüchtigt wortkargen J Mascis, Sänger und Gitarrist von Dinosaur Jr. (der als Band-Diktator und ursprünglicher Schlagzeuger bekanntlich seinem Drummer Murph dessen Parts vorschreibt) zu deren jüngstem Album „Sweep It Into Space“. Ich befragte Mascis dabei zu einem Song mit dem Titel „I Met The Stones“.

RR: There’s this song “I Met The Stones”. It says “If you’re invited, stupid not to go.” Did you actually meet the Stones?

JM: “Oh yeah, you know I know Charlie Watts’s roadie. Keith Richards’ roadie moved to our town, but then he hired this [other] guy, and he had to be Charlie Watts’s roadie, and so yeah, I was in Berlin, actually. I went down there, it was like, you know I’d just come off of a flight, and he said ‚You gotta get here at two,‘ and I was really out of it, I hadn’t slept. So yes, I went down, and I did get to meet the Stones. You know I got to talk to Charlie a bit, and he was a childhood idol of mine, cause I play the drums, and he was one of my main guys I was into. It was like Charlie Watts, Bonham and Ian Paice. I was trying to be in-between those three, so yeah, I don’t know.”

RR: Did he know who you were?

JM: “No, he was just aware that I was a friend of his roadie’s, so he was really nice cause he knew I was a friend of his roadie guy’s, so he liked to talk a lot about the weather, and the weather in Massachusetts, cause his daughter lived in Massachusetts, and how cold it is, and how much firewood we have. It was pretty cool.”

RR: You mentioned Paice, Bonham and Watts, but you came out of hardcore, so was there for you always a line leading back to what is now rather terribly called Classic Rock? Was there an uninterrupted link to that in your head?

JM: “Yeah, I mean when I was really into hardcore, I did sell some of my rock records, and I was just like ‚No, I’m only into hardcore right now.‘ But the Stones I was always really into, so I don’t think I sold any Stones albums. I sold maybe some AC/DC albums and bought them back later or something.”

Wie oben schon gesagt: Jetzt, wo Charlie Watts tot ist, erzählen die Leute, die sich auskennen, uns allen, dass er einer der Größten war. J Mascis zollte ihm schon Tribut, als er noch am Leben war, und fand es ziemlich cool, mit ihm über das Wetter in Massachusetts gesprochen zu haben.

Und ich für meinen Teil finde die Vorstellung dieses Zusammentreffens zwischen Mascis samt seinem aus der Baseball-Mütze wallenden, silbernen Haar und dem ewig smarten Charlie Watts, der sich höflich bemüht, mit diesem narkoleptisch murmelnden Typ Konversation zu machen, vor meinem geistigen Auge ja auch wirklich um einiges charmanter und interessanter als gerade vorhin die Geschichte mit dem rechten Haken.

Charlie Watts war nicht nur ein großer Drummer. Ich glaube, er war auch sonst ziemlich in Ordnung. Er ruhe so, wie er die meiste Zeit über gelebt zu haben scheint. In Frieden.

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