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Sven Regener

Charlotte Goltermann

Ein Wimmelbild der Kreuzberger Bohème im geteilten Berlin

Glitterschnitter, der neueste Roman von „Element of Crime“-Sänger Sven Regener, spielt erneut im geteilten West-Berlin. Die Geschichte um Frank Lehmann, seine Freunde aus dem „Cafe Einfall“ und die experimentelle Band „Glitterschnitter“ ist ein weiterer Mosaikstein in einem Wimmelbild der Berliner Bohème aus der Zeit von „Tunix“, Postpunk und Hausbesetzung. Wir haben mit Sven Regener gesprochen.

Von Boris Jordan

Frank Lehmann ist wieder da. Das heißt, er war schon damals da, frisch aus dem Bremer Militär, seinem Bruder nachfolgend, und übernimmt dessen Job hinter dem Tresen eines dieser Berliner Cafés der Zeit, dem Café Einfall - denn die Berliner, so eine der vielen scharfzüngigen Figuren in „Glitterschnitter“, „benannten ihre Kneipen genauso kalauerfreundlich wie die Friseure ihre Salons.“ In Kreuzberg, wohlgemerkt, dem Kreuzberg des Jahres 1980, in dem das Buch wieder spielt.

Obwohl er zu dieser Zeit selbst in Berlin war, legt Sven Regener legt Wert darauf, dass „Glitterschnitter“ keine Nacherzählung, kein Sittenbild der Zeit sei, es gehe ihm nicht darum, zu zeigen, was war, sondern - und dafür sei die Kunst da - was hätte sein können.

Sven Regener: Es ist sozusagen ein bisschen wie aus einem Paralleluniversum, einer Gegenwelt, die auf der anderen Seite von der Sonne genau um 180 Grad verdreht kreist. Das ist ausgedacht, aber das Lebensgefühl, das ist schon relativ authentisch. Es spielt nicht umsonst in der Zeit, sondern weil es auch eine Zeit war, in der gerade was Kunst, was Musik betraf, sehr viel passiert ist. Nicht nur in Berlin, aber es gab vor allem in West-Berlin auch besonders viel Aufmerksamkeit für die Sachen. Gerade durch die Neue Deutsche Welle und diesen ganzen Kram waren ziemlich viele Scheinwerfer und Kameras auf diese ganzen Berliner Künstler, die Künstlerszene gerichtet, und damit natürlich auch auf die Randgebiete, die Performance-Leute, die Aktionskünstler, die Konzeptkünstler, die ganzen Krach- und Experimental-Rocker und so weiter. Also alles, was sozusagen am Rand dieser Sache stattfand.

Ein Wimmelbild der Randbohème

Wir kennen die Protagonisten von „Glitterschnitter“ bereits. Seit dem Erfolg von „Herr Lehmann“ hat Sven Regener immer mehr Leute integriert. Den bodenständig grantigen Frank Lehmann, seinen spinnerten Bruder Fred, der als Teilnehmer einer Psychopharmaka-Testanordnung möglicherweise gerade den Verstand verliert, den (späteren) besten Freund Karl Schmidt, der sich als Bohrmaschinen-Spieler in der Noiserock-Experimentalband „Glitterschnitter“ versucht, einen stets rauchend beobachtenden und berlinerisch- gelassenen „Kontaktbereichsbeamten“, die zwei heimwehkranken Auslandsösterreicher Kacki und P. Immel, von denen letzterer ein geerbtes Haus in Kreuzberg schnell besetzen muss, bevor es andere tun, die grantige Chrissi und ihre coole Mutter Kerstin, die sich generationsadäquat auf die Nerven gehen, die Mitglieder der Künstlergruppe „ArschArt“, die alle Jürgen und Michael heißen und wild durcheinander diskutieren, ob sie aus dem leerstehenden Friseursalon „Intimfrisur“ - wie von den Österreichern vorgeschlagen - ein „Wiener Café“ auf der Wiener Straße machen sollen.

Sven Regener: Also ja, im Augenblick ist es so, dass ich halt viele Ideen hatte für diese Zeit und die Leute an diesem Punkt ihres Lebens. Also es geht eigentlich ja seit „der kleine Bruder“ relativ klar in Berlin immer um diese Leute. Ich erfinde da ein paar mit dazu, ich erfinde ja immer neue Personen dazu und die fangen dann an, ihren eigenen Willen zu entwickeln und laufen dann los und dann kommen die Ideen.

So habe sich diese unterhaltsame (und sprachlich ziemlich gut recherchierte) spezielle österreichische Nebenhandlung in „Glitterschnitter“ fast von selbst ergeben.

Sven Regener: Das ist ein ganz interessanter Prozess. Zum Beispiel sind mir eigentlich, mehr oder weniger unbewusst, diese „ArschArt“-Leute, also diese Wiener, einfach zugeflogen. [...] „Glitterschnitter“ ist eigentlich ein großes Panoramabild (und unklar), wer wirklich die zentralen Figuren sind. Und dann erlebt man manchmal auch eine Überraschung und stellt fest, dass es eigentlich andere sind, als man gedacht hat. Also ich glaube, dass gerade diese beiden Obermuftis in dieser Künstlergruppe, der „ArschArt“-Galerie, dass sie eigentlich sich auf eine Weise in diesem Roman in den Vordergrund gespielt haben, die ich nicht auf der Rechnung hatte. Ja, aber da sage ich: Das ist das Tolle daran, dass man dann auch selber noch überrascht wird.

Buchcover mir Lokal

Galiani Berlin

„Glitterschnitter“ von Sven Regener ist im Verlag Galiani Berlin erschienen.

Wall City Noise und Intimfrisur

Die Band „Glitterschnitter“ (deren Ähnlichkeit mit den frühen Einstürzenden Neubauten Sven Regener von sich weist), will in der Besetzung Schlagzeug, Bass, Bohrmaschine auf der renommierten Kunstmesse „Wall City Noise“ auftreten. Noch haben sie nur im Proberaum gespielt, aber als die „Einfall“-Kundin Lisa als Saxophonistin mitmachen will und deren Tante auch noch die Kuratorin des Festivals ist, rückt die Möglichkeit eines Auftritts in greifbare Nähe. Selbige Tante will sie live sehen, und so plant man ein Konzert im „Intimfrisur“, wovon allerdings dessen Eigentümer P. Immel und der ganze Rattenschwanz von Mitdiskutierern und Meinungsträgern erst überzeugt werden will. Dazu kommt, dass ein Künstler aus Lehmanns und Schmidts WG, der freakige, aber planvolle Künstler H.R.Ledigt, bei einem der vorangegangenen Kunst-Events mit einem Performance-Skandal einige Prominenz erhaschen hatte können, bei der kommenden aber vom zuständigen Politiker gezwungen wird, ein Tafelbild zu malen. Das will der kunstmarktkritische Exzentriker Ledigt (auf dessen Ähnlichkeit mit Martin Kippenberger Sven Regener hinweist) natürlich so gar nicht; er interessiert sich eher dafür, die Modellminiwohnung von Ikea in seinem Zimmer nachzubauen. Da sind Ideen gefragt und Pläne wollen gemacht und vor allem diskutiert werden.

Frank Lehmann („nicht Frankie sagen“) ist ein der wenigen Figuren in dem Buch, der allem um sich herum eher negativ gegenüber steht: Der Aktionskunst, den endlosen Schlagfertigkeits-Schlagabtäuschen zwischen lauter Möchtegernkünstlern und Musikern, Hausbesetzern, den Kunstfuzzis und ihren Macht- und Bedeutungskämpfen, den Playbackbands und Noise-Experimentatoren, den Tagedieben und Kontaktbereichsbeamten. Stoisch macht er inmitten all des Chaos halbwegs sinnvolle Dinge, interesselos und grummelig, aber konsequent, er putzt die Kneipe, serviert und kassiert das Flaschenbier, kämpft mit seiner Idee der geschäumten Milch im Kaffee gegen die Windmühlen von Kneipenboss Erwin, und hat gegen Schluss des Romans den ultimativen realistischen Moment.

Ein Freak, der manchmal raus will

In diesen vielen Diskussionen, in dem die Figuren wie in einer Screwball Comedy durcheinanderreden, wechseln die Perspektiven zum Teil rasend schnell und widersprüchlich. In einem beispiellosen und sehr kurzweiligen Dialoggewirr, bei dem von Kunsttheorie und Rauchverbot bis zum Gebrauch welcher Milch beim Milchkaffee verschiedenste Bohème-Probleme wortreich besprochen werden, lernen wir Regeners liebgewordene Figuren in vielen Facetten kennen - trennscharf, sentimental, lakonisch, empört, streitbar. Regener spielt virtuos auf der Klaviatur des Dialogs, obwohl man öfters den Eindruck hat, der Autor würde mit all der Schlagfertigkeit und all den geistreichen Bonmots hauptsächlich mit sich selbst sprechen. Aber all das ist unterhaltsam genug und so lassen wir uns gerne hineinziehen in das „Wimmelbild“, wie Regener sein immer größer werdendes Panorama dieser Berliner Bohème nennt. Allen Protagonist*innen wird ein Lavieren zwischen kreativem Chaos und Sehnsucht nach Normalität gleichsam zugestanden.

Sven Regener: In jedem Menschen wohnt irgendwo auch ein Freak, der manchmal raus will. Und das gilt eben auch für Normalos, die Leute an der Supermarktkasse oder so, die dann plötzlich so eine Freak-Seite entwickeln. Und das finde ich auch interessant für einen Roman, dass man nie genau weiß, woran man mit den Leuten wirklich ist. Naja, das ist uninteressant, die Leute zu Pappfiguren zu machen, wo man schon ganz genau weiß, wie die drauf sind. Manchmal ist es auch ganz gut, wenn man gerade das nicht macht.

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