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Wohnen und Wahlen in Berlin 2021

Christian Lehner

Wohnen und Wahlen in Berlin 2021

Aus der einstigen Selbstverwirklichungs-Metropole Berlin, mit viel Platz für alle, ist die Hauptstadt der Wohnungsnot geworden. Ein Betroffenenbericht.

von Christian Lehner

Und dann war der Deckel ab. Und dann kam der Brief. Und dann begannen die Troubles. Als das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 15. April diesen Jahres den Mietendeckel in Berlin für nichtig erklärte, war für Mieter*innen die kurze Phase des Durchatmens vorbei. Vielen blieb sogar die Luft weg, denn sie sahen sich nun mit Rückzahlungsforderungen über entgangene Mietbeiträge der Eigentümer*innen konfrontiert. Bei uns war das ein bisschen anders, aber dazu später.

Mietendeckel auf und ab

Im Februar 2020 trat der vom Berliner Senat beschlossene Mietendeckel in Kraft. Die Regierung des Stadtstaates, bestehend aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und Die Linke, verfügte einen fünfjährigen Mietenstopp. Unter bestimmten Voraussetzungen durfte in diesem Zeitraum die Miete nicht erhöht werden. Lag sie über dem festgelegten Niveau, musste sie abgesenkt werden.

Wir waren in unserer Altbauwohnung im Bezirk Tempelhof-Schöneberg Teilnutznießer des Mietendeckels. Auch unsere Monatsmiete wurde eingefroren. Sie lag zwar über dem erlaubten Maß – allerdings knapp unter der Toleranzgrenze von 20%. - also nüscht mit Mietminderung, wa!

Der Deckel hatte noch andere Effekte als Hundertausende Mieter*innen finanziell zu entlasten. Die Immobilienbranche klagte über mangelnde Investitionsbereitschaft durch private Immobilienkonzerne und Einzeleigentümer*innen, wenn erhöhte Einnahmen wegfallen würden, und malte das Schreckgespenst einer DDR-ähnlichen Verwahrlosung des Berliner Wohnungsbestands bei gleichzeitigem Neubaustopp an die Wand.

Wohnen und Wahlen in Berlin 2021

Christian Lehner

Mietendemo am 11. September am Alexanderplatz

Mit der Beschwerde konnte ich gut leben. In den beinahe acht Jahren, die wir in der Wohnung Miete zahlten, wurde von Seiten der Eigentümerin auch ohne Mietendeckel nicht ein Cent in den Erhalt der Substanz oder unserer Wohnung investiert – außer in eine durch den Denkmalschutz verordnete Fassadenrenovierung. Jedes Jahr zu Beginn der Kältesaison stellten sich die zahlreichen Familien im Haus erneut auf den mehrmaligen Ausfall der alten Gasheizung im Keller ein.

Und um die arme Immo- und Baubranche musste man sich auch eher kaum Sorgen machen. Laut dem Rechercheprojekt Cities For Rent, dem auch der Berliner Tagesspiegel angehört, war und ist die deutsche Hauptstadt trotz Deckelgespenst und Coronapandemie der europäische Durchlauferhitzer für jene neue Form von groß angelegter Immobilienspekulation, die zuvor bereits die Innenstädte von London und Paris zu bevölkerungsarmen Touristen- und Büroquartieren gemacht hatte mit eingestreuten Luxus-Hoods für zahlungskräftige Expats und die Tech-Klientel.

Um im Bezirk Tempelhof-Schöneberg zu bleiben, muss man nur beobachten, wie sich der aus Schienenbrachen 2013 neu angelegte Park am Gleisdreieck entwickelt hat. Nach und nach wurde die Grünanlage mit Miet- und Eigentumsburgen für Wohlhabende umzäunt. Tagsüber wird der Rasen gesprenkelt, in der Nacht und an den Wochenenden tobt nicht erst seit Corona die Party. Die in Schöneberg fast traditionell ansässigen Clans freuen sich seither über ein divers internationales Publikum an Abnehmer*innen ihrer Bespaßungsware. Seit Corona eskaliert die Lage, weil die Jungen (verständlicherweise) Spielstätten für ihr Jungsein brauchen.

Boomtown Berlin

Auch wenn die Statistik zuletzt eine leichte Abflachung der Kurve zeigt, die wohl auch durch den Mietendeckel zustande gekommen ist, sind in Berlin die Mieten in den letzten Jahren kräftig gestiegen – allein von 2015 bis 2020 um satte 44%, seit 2007 um 64%. Das ist bundesweiter Rekord. 83% der Berliner*innen sind Mieter*innen, das sind vergleichsweise mehr als in der mietenfreundlichen Stadt Wien (78%).

Wohnen und Wahlen in Berlin 2021

Christian Lehner

Mietendemo auf der Straße des 17. Juni Alexanderplatz

Im Mittel ist das Niveau der Mieten in Berlin im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten relativ niedrig - ein Umstand, der aus der Mietendichte und aus vielen Langzeitmieten mit reglementierter Teuerungsrate resultiert. Zudem wird die vermeintlich billigere Miete durch ein im Vergleich zu etwa Hamburg oder München niedriges Lohnniveau ausgeglichen. Teuer wird es vor allem für Neuzuziehende und jene, die ihre Wohnung wechseln müssen – für Jungfamilien, sozial Benachteiligte für Student*innen und entmietete Rentner*innen.

Die Gründe für den Anstieg der Mietkosten sind vielfältig. Immer mehr Menschen drängen in die deutsche Hauptstadt, die noch vor 15 Jahren als wirtschaftliches Ödland, aber als Oase der Selbstverwirklichung und der Pop- und Kunstszenen galt (remember den Spruch „Berlin ist arm, aber sexy“ von Ex-SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit).

Der Zuzug kommt aus dem EU-Ausland, aus Übersee, aus den Bundesländern des ehemaligen Ostens, aus Osteuropa, aus dem Nahen Osten. Alle wollen nach Berlin: Student*innen, Flüchtende, Techies, Touristen, Inverstoren, die hier kaufen, aber oft gar nicht wohnen, und – obwohl auch die kulturellen Räume immer enger werden – noch immer viele Künstler*innen. Der Bau neuer Wohnungen kann mit der Nachfrage nicht mithalten. Berlin hat Anfang der Nullerjahre viele Wohnungen der öffentlichen Hand an private Immobilienfirmen verkauft. Das rächt sich nun. Berlin wurde Opfer seines eigenen Hypes: „Arm, aber sexy“ erwies sich als Magnet. Heute wäre „Auch nicht reich, aber ohne Wohnung“ passender.

Wohnen und Wahlen in Berlin 2021

Christian Lehner

Sogar am Wasser wird gegen die Wohnungspolitik in Berlin protestiert

Obwohl zuletzt durch die Pandemie die Zuzugswelle etwas ins Stocken geriet, bleibt der Druck auf dem Wohnungsmarkt hoch. Regularien wie die bundesweite Mietpreisbremse und die Zügelung des Ferienwohnungsmarktes von Airbnb und Co. brachten nur geringfügige Entlastung. Und so sehr der Mietendeckel von vielen beklatscht wurde, hat er den Markt an Angebotsmieten zum Stillstand gebracht. Mit Aussicht auf ein Fünfjahresmoratorium wollte niemand mehr umziehen. Im Januar 2021 meldeten sich für jede freie Wohnung in Berlin durchschnittlich 214 Interessenten.

Als wir in Not gerieten und uns um eine neue Wohnung umsehen mussten, kamen bei den großen Immobilienportalen auf 100% Anfragen 0% Besichtigungstermine. Kostenpflichtige Premium-Accounts änderten nichts an dieser Quote. Ich erinnere mich an von meiner Frau weitergeleitete Anzeigen, die ich eine halbe Stunde später öffnete, um auf die Besichtigungsfotos zu klicken mit dem Resultat, dass die Wohnung bereits neue Mieter*innen gefunden hatte. Gratulation!

Senatsparteien sind gescheitert

Als Loser stehen nun nach Ende des Mietendeckels nicht nur viele Mieter*innen da, sondern auch der Berliner Senat bestehend aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und Die Linke. Dass das Mietpreisrecht in Deutschland vom Bund geregelt wird, sollte eigentlich allen Beteiligten bewusst gewesen sein – politische Beobachter*innen sprechen daher von einer Alibiaktion, um für einen bundesweiten Mietendeckel Stimmung zu machen.

Den fordert im laufenden Wahlkampf vor allem Die Linke, angeführt von Kultursenator Klaus Lederer. Franziska Giffey, Spitzenkandidatin der SPD in Berlin, will den Begriff hingegen nicht mehr in den Mund nehmen und kann sich höchstens eine Moratorium unter der Maßgabe der Inflationsrate vorstellen. Die ehemalige Bezirksbürgermeisterin von Neukölln setzt - ebenso wie die CDU und FDP - vor allem auf eine forcierte Neubaupolitik. Die CDU/CSU und die FDP werben darüber hinaus für einen Abbau der Bürokratie und der Bauauflagen.

Die Grünen plädieren in ihrem „Mietenschutzschirm“ auf einen freiwilligen Mieterhöhungsverzicht der Vermieter*innen und auf einen fairen Umlageausgleich bei den Energieausgaben. Als Vorbild für gemeinwohlorientiertes Wohnen wird Wien genannt.

Laut SPD, Linke und Grüne, aber auch der CDU, sollen mehr Sozialwohnungen gebaut werden. Diese sollten die Sozialbindung nicht so schnell und leicht verlieren wie bisher. Sozialwohnungen büßen in Berlin nach einer bestimmten Zeit ihren Status ein und wandern zurück in den freien Markt. Ihr Anteil am Wohnungsmarkt ist seit Jahren rückläufig.

Weitere Absichtserklärungen aus dem linken Spektrum betreffen eine Verbesserung des Mieterschutzes, größere Hürden bei der Eigenbedarfskündigung, Bremsen für die Entmietung durch sogenannte Klimasanierungen und mehr Unterstützung für die zahlreichen Obdachlosen in der Stadt. Immerhin setzte der Senat Anfang August eine Erschwerung der Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentum durch.

Bürgerinitiative fordert Enteignungen großer Konzerne

Das Mietproblem wesentlich radikaler geht die Bürgerinitiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen an. Die Aktivist*innen fordern, private Wohnungskonzerne, die mehr als 3.000 Mietwohnungen besitzen, im Austausch von Entschädigungszahlungen zu vergesellschaften. Betroffen wären insgesamt etwa 240.000 Berliner Wohnungen. Wenn wieder mehr Mietwohnungen in der öffentlichen Hand kämen, so der Plan, würde das den Mietpreis in der Stadt drücken. Die Milliardenausgaben für die Entschädigungen kämen über die Jahre durch die Mieteinnahmen zurück.

Obwohl der Aufschrei der Immobilienbranche und der konservativen Parteien groß war, kann sich eine Mehrheit der Berliner*innen mit dem Gedanken der großangelegten Enteignung anfreunden – immerhin sieht diese Möglichkeit der Artikel 15 des deutschen Grundgesetzes vor.

Wohnen und Wahlen in Berlin 2021

Jana Legler

Es zeigt darüber hinaus, wie groß der Frust mit der verfehlten Wohnpolitik und dem angespannten Mietmarkt mittlerweile ist. So richtig hinter der Enteignungsinitative steht aber nur Die Linke. Für Aufsehen sorgte die Spitzenkandidatin der Grünen, Bettina Jarasch, mit der Ankündigung, gegen die Linie der Bundespartei, beim Bürgerentscheid mit Ja zu stimmen, auch wenn der Plan der Grünen dieses Instrument nur als Notmaßnahme vorsieht.

Am kommenden Sonntag wird im Rahmen der Wahl zum Abgeordneten Haus in Berlin in einem Volksentscheid über die Enteignung abgestimmt. Doch ein positiver Ausgang käme bloß einem Appell an den neu zu bildenden Senat gleich.

Große Wohnkonzerne wie Deutsche Wohnen und Vonovia scheinen vom Echo auf die Bürgerinitiative immerhin so beeindruckt, dass sie teilweise auf die Rückerstattung von entgangenen Mieterträgen durch den Mietendeckel verzichteten, Mäßigung bei anstehenden Mieterhöhungen ankündigten und letzte Woche einen Deal über den Rückkauf von 14.750 Wohnungen durch das Land Berlin unterzeichneten.

Eigenbedarf als Spekulations-Tool

Zurück zum Brief nach dem Fall des Mietendeckels. Der neue Eigentümer, der die Wohnung kurz vor dem Jahreswechsel gekauft hatte, wollte eine Mieterhöhung durchsetzen - zwei Tage nachdem der Deckel ab war. Die geforderte Höhe lag weit über der durch den Mietenspiegel festgelegten Grenze. Auch die Zustimmungsfrist von zwei Wochen entsprach nicht den gesetzlichen Vorgaben. Normalerweise hat man zwei Monate Zeit für eine Zustimmung oder einen Widerspruch. Das roch nach kalkulierter Provokation.

Wir antworteten auf Rat des Mietervereins mit der Anerkennung der Mieterhöhung im Rahmen der dafür vorgesehenen Preisbindung. Daraufhin eskalierte die Situation und nach einem „klärenden“ Telefongespräch wurde uns eine Eigenbedarfskündigung angekündigt.

Die Eigenbedarfskündigung ist in Deutschland die häufigste Form der Kündigung einer Mietwohnung. Sie kann dann erfolgen, wenn der Vermieter oder die Vermieterin den Anspruch gut begründen kann. Das ist der Fall, wenn die Eigentümer*innen zum Beispiel selbst ihre Wohnung verloren haben, oder diese für einen nahen Verwandten brauchen.

Wohnen und Wahlen in Berlin 2021

Christian Lehner

Aber auch die Mieter*innen sind geschützt, wenn zum Beispiel aus dem Herleitung der Eigenbedarfskündigung klar ersichtlich wird, dass diese mit betrügerischer Absicht passierte oder dass man nur unliebsame Mieter*innen los werden möchte.

Laut Mieterverein sind die Chancen auf einen erfolgreichen Widerspruch intakt, doch langfristig setzen sich vor Gericht meistens die Eigentümer*innen durch. So entwickelt sich der Eigenbedarf zum Spekulations- und Entmietungs-Tool. Wohnungen mit unbefristeten Mietverträgen sind am Markt nämlich wesentlich billiger zu bekommen als Leerstand. Käufer*innen haben oft gar keine Absicht, den Mietvertrag zu würdigen, sie wollen selbst so schnell wie möglich einziehen, oder die Wohnung unter Anwendung bestimmter Tricks teurer weitervermieten.

Bericht von der großen Mietendemo, die am 11. September in Berlin stattgefunden hat.

Handelt es sich nicht um eine Erstumwandlung und greift auch der Milieuschutz nicht, hat man dann einige Monate Zeit, sich eine neue Bleibe zu suchen – bloß ein kleiner Trost, wenn es kein entsprechendes Angebot gibt.

Aus den bisher skizzierten Gründen geht einem in dem Moment des ausgesprochenen „Eigenbedarfs“ sehr viel durch den Kopf und auch durchs Herz – noch dazu, wenn man zwei kleine Kinder hat. Man denkt an die Nachbarin eine Etage über uns, bei der jetzt der Eigentümer schon das zweite Mal versucht, die Mieterin rauszuschmeißen, seinen Eigenbedarf als EU-Ausländer bisher aber nur schwer begründen konnte. Oder an die direkten Nachbarn, die nach über 20 Jahren im Haus von einem Paar rausgekickt wurden und einer der Rauskickenden der Chef einer linken Popkultur-Institution war – frei nach Brecht: Erst das Wohnen, dann die Moral (diesbezüglich gibt es noch ganz andere Stadtgeschichten). Man denkt an die befreundete Familie, die wächst und wächst und doch keinen größeren Wohnraum findet, an andere, die den Kiez verlassen mussten und frühmorgens doch zurückpendeln, weil sie in der Nähe der neuen Wohnung keinen Kita- und keinen Schulplatz für die Kids bekommen haben (auch so ein Berlin-Problem).

Die Wohnungsnot geht alle an

Man denkt später an die soziale Dynamik dieser modernen Verdrängungsprozesse, die uns – so wie bei den Themen Klimaschutz, Migration und Corona – scheinbar unvermeidbar in zwei verfeindete Stämme einteilt, hier die Eigentümer*innen und da die Mieter*innen. Man denkt an die schleichende Endsolidarisierung und die Erosion einer einst funktionierenden Hausgemeinschaft, die sich schnell mit den neuen Gegebenheiten arrangiert hatte. In der man in einer dieser unsäglichen Täter/Opfer-Umkehrreaktionen plötzlich als bald-das-Haus-verlassen-Müssender zum Gemiedenen wird - vielleicht weil den Nachbar*innen im nächsten Moment genau dasselbe passieren könnte, man aber lieber nicht daran erinnert werden möchte. Wir wurden unsanft daran erinnert, dass alles vergeht, dass nichts selbstverständlich ist und dass Recht nicht immer gerecht bedeutet. Und dass einem viel passieren kann, auch wenn man gar nichts falsch gemacht hat.

Wohnen und Wahlen in Berlin 2021

Christian Lehner

Und jetzt sitze ich hier und schreibe diese Zeilen bereits aus einer neuen Bleibe, die zwar viel zu groß und teuer und zu weit weg für uns ist, aber sehr schön und das einzige Dach über dem Kopf zwischen Köpenick und Spandau war, das auf uns gewartet hat. Und das auch nur deshalb, weil die Zuschreibung von Gut und Böse selbst in der Hölle namens Wohnungsmarkt Berlin nicht immer ihre Berechtigung hat.

Denn es war ausgerechnet eine Immobilienmaklerin, die eher zufällig von unserem Schicksal der drohenden Entmietung erfuhr, die uns unaufgefordert eine Wohnung besorgte und die annehmbare Bedingungen für einen Aufhebungsvertrag mit dem Eigentümer der alten Wohnung mitverhandelte, ohne von uns im Gegenzug etwas dafür zu verlangen.

Was für ein Glück! Was für ein Privileg! Aber dieses Glück und dieses Privileg haben Hunderttausende Berliner*innen nicht. Wohnen ist keine Angelegenheit des Individuums, sondern betrifft uns alle. Und genau deshalb sollten die Wahlberechtigten an diesem Superwahlwochenende in Berlin und Deutschland die Wohnkonzepte der Parteien ganz genau studieren.

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