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Leere Zapfsäulen an einer Tankstelle

APA/AFP/Adrian DENNIS

ROBERT ROTIFER

Benzinkrise in Großbritannien: „Ein bisschen wie im Krieg“

Ihr wollt frischen Krisenporno aus Britannien? Könnt ihr haben, aber seid gewarnt, er ist kein echter Liebesersatz.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Full Disclosure first: Nein, ich kann euch nicht wirklich sagen, wie sich die britische Benzinkrise anfühlt, weil ich selbst im Moment gar nicht dort bin.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Seit einer Woche halte ich mich in musikalischer Mission in Wien auf, und als ich aus dem Vereinten Königinnenreich wegfuhr, war die ganze Bredouille erst im Anrollen.

Stimmt, wir hatten schon vor drei Wochen leere Regale (ich berichtete hier), aber es gab halt noch keine Schlangen und Schlägereien an den Tankstellen und so.

Wenn ich jetzt dagegen zu Hause anrufe, höre ich, es sei „ein bisschen wie im Krieg.“ Das Leben mit der begrenzten Auswahl im Supermarkt, das Versprechen, die Armee werde alles wieder gut machen, das Ausweichen auf alternative Routen und Verkehrsmittel (eh ein positiver Nebeneffekt, nachdem nach den post-Lockdown-Öffnungen so viele lieber mit Auto als öffentlichen Verkehrsmitteln pendeln wollten).

Frau mit Kanistern vor Tankstelle

APA/AFP/Tolga Akmen

Aber ehrlich, was weiß ich schon von all dem als bloßer Nachrichtenleser, zeitweilig behütet hier in eurem kuscheligen Operettenstaat, den alles Unheil immer nur gedämpft mit einem dicken Daunenpolster trifft.

Genau in dem Moment, wo ich das schreibe, werden mir allerdings wieder einmal ein paar Täuschungen und Selbsttäuschungen bewusst.

Das mit dem Operettenstaat zum Beispiel ist natürlich völliger Blödsinn. Und das mit dem Daunenpolster auch. Gibt ja mehr als genügend Leute in Österreich, die leben nicht in einer Operette, sondern einer grausam zynischen Posse oder einem seelenzerstörenden Ibsen-Drama. Und wenn ich seh, wie zwischendurch total spaßige Memes über Großbritannien durch die deutschsprachigen sozialen Medien geistern, dann merke ich natürlich auch, dass Großbritannien hier auch die immer beliebte „Koal, du bist’s ned“-Rolle spielt.

Als die Desasterzone, wo alles noch ein bissel schlimmer ist als bei uns und man sich beim Drüberlesen gleich ein bisserl besser fühlen darf.

Aber dann fällt mir wieder ein, dass ich genau diese Kolumne über meine Funktion als euer Korrespondent für tröstliche Schadenfreude hier schon einmal geschrieben hab, seinerzeit im Jänner 2018, eine ganz andere Welt.

Leere Tankstelle mit Schildern "No Fuel"

APA/AFP/Tolga Akmen

Ich hab den Artikel von damals gerade nachgelesen, es ging um britische Extremerfahrungen wie die weitverbreitete Obdachlosigkeit und das auch ganz ohne Pandemie schon völlig überforderte Gesundheitssystem. Dem könnte ich jetzt hinzufügen, dass das britische Äquivalent zum österreichischen Selbstbetrug des „Es wird schon alles nicht schlimm sein“ tendenziell die permanente Eskalation des „Everything is fucking terrible“ ist.

Wie so oft im Vergleich zwischen Österreich und Großbritannien, ist alles genau umgekehrt und genau dasselbe zugleich.

Es ist alles gar nicht so schlimm, sagen in Österreich immer die, für die es selbst nicht so schlimm ist.

Es ist alles fucking terrible, behaupten in Großbritannien immer die, für die es selbst nicht gar so fucking terrible ist.

Und während ihr von Leuten wie mir lest, wie schlimm die Dinge in Großbritannien stehen, verbringt die britische Regierung gerade einen großen Teil ihrer Medienauftritte damit, der Bevölkerung einzureden, dass es anderswo in Europa ganz genauso fucking terrible sei wie in Großbritannien.

Die Schlussfolgerung bleibt in beiden Fällen dieselbe: Weitermachen.

(Zum Tweet hier drüber, der sich auf einen Tweet der aus meiner letzten Kolumne bekannten Kulturministerin Nadine Dorries bezieht: „There is no crisis“ ist das Yang zum Yin von „Everything is fucking terrible“)

Und so aufgelegt all die Geschichten auch sind, eigentlich will ich kein Teil dieser mittlerweile europaweiten Industrie des Briten-Bashens sein.

Aber ja doch, trotzdem darf man sagen, dass die Versorgungskrise in Großbritannien, die mittlerweile nicht nur Lebensmittel- und Benzinversorgung, sondern – das unausdenkbar Allerallerschlimmste – die heiligen britischen Weihnachten bedroht, natürlich sehr wohl mit dem Brexit zu tun hat.

Weil die britische Wirtschaft sich über die letzten drei Jahrzehnte auf eine alle Versorgungsbereiche durchziehende Art von der Ausbeutung billiger, oft hochqualifizierter EU-Arbeiter*innen abhängig gemacht hat, deren Ausbleiben sich so schnell nicht durch britische Arbeitskräfte wettmachen lassen wird.

Dass britische Konservative mittlerweile offen die Lexit-Argumente des nationalistischen Flügels der britischen „Linken“ anwenden („Lexit“ = Left Brexit) und frei nach Gordon Brown im Jahre 2009 „British jobs for British people“ fordern, ist zugegebenermaßen schon eine köstliche Ironie.

Sobald aber die Löhne jener British Workers steigen, werden dieselben britischen Konservativen wohl in Panik ausbrechen, höhere Leitzinsen fordern und damit die in bei normalem Zinsniveau völlig unerschwinglichen Hypotheken gefangene Middle Class verschrecken. Das wird politisch immerhin spannend.

Da gleichzeitig aufgrund der Versorgungsengpässe die Preise und damit die Lebenshaltungskosten steigen, wird das plötzlich so begehrte britische Proletariat allerdings auch bei steigenden Löhnen keinen größeren Wohlstand erlangen.

Im Gegenteil: Wenn die Regierung nächste Woche die temporäre Erhöhung der für viele Familien überlebenswichtigen Sozialhilfe namens Universal Credit rückgängig macht und auch noch das britische Äquivalent der Kurzarbeit, das sogenannte Furlough Scheme, beendet, wird es für Millionen Brit*innen sehr, sehr eng.

So eng, dass sogar der von der UNO berufene Sonderberichterstatter für extreme Armut eine deutliche Warnung an den britischen Staat ausgesprochen hat. Die selbstverständlich ignoriert wurde.

(zum Tweet hier drüber: Er ist SARKASTISCH gemeint)

Aber à propos Weihnachten: Wenn die britische Regierung in der Not ein dreimonatiges Sondervisum für europäische LKW-Fahrer*innen anbietet, das genau bis Weihnachten laufen soll, erinnert das natürlich nicht nur diesen Kolumnenschreiber hier daran, wie dieselbe Regierung dieselben europäischen LKW-Fahrer*innen letzte Weihnachten bei vollem Lockdown an der Grenze ohne Essen, Trinken und Sanitäranlagen im Stich ließ.

Man wundert sich daher nicht, dass die europäischen LKW-Fahrer*innen der britischen Regierung erklären, wo sie sich ihre dreimonatigen Visa hinstecken können.

Abschließend noch, weil ich hier manchmal fürsorglich gefragt werde:

Keine Sorge um mich. Ich hab immer noch vom letzten Winter meine Dosen in der Garage, die werden eine Weile reichen.

PS Brexit Latest:

Britische Autofahrer*innen dürfen auf dem Festland übrigens neuerdings nicht mehr mit „GB“-Aufklebern fahren, sondern haben diese mit neuen „UK“-Aufklebern zu ersetzen.

Und nein, das hab ich nicht erfunden.

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