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Eva Sangiorgi, künstlerische Leiterin der Viennale, vor dem Gartenbaukino.

Viennale

So aufwühlend war die Eröffnung der Viennale

Anne ist 19 und fest entschlossen - mit viel Nähe und großer Sympathie für ihre Hauptfigur hat Audrey Diwan den autobiografischen Roman „L’événement“ von Annie Ernaux verfilmt. „L’événement“ eröffnete Donnerstagabend die 59. Viennale im wieder voll besetzten Wiener Gartenbaukino.

Von Maria Motter

Die Viennale läuft vom 21. bis 31. Oktober 2021

Mit Wut, auch mit Begierde, mit ihrem Bauch, mit Leib und Seele und mit ihrem Herzen hat Audrey Diwan ihren Film „L’événement“ (deutsch: „Das Ereignis“) gemacht. Das sagte die französische Autorin und Regisseurin, als sie vor sechs Wochen den Goldenen Löwen der Filmfestspiele in Venedig in Händen hielt. „Wie sage ich Dankeschön in Ihrer Sprache?“, fragt sie gestern auf der Viennale in Wien ihre Kolleginnen Mina Mileva und Vesela Kazakova. Die drei sitzen im Hotel Intercontinental, im neunten Stock im Raum mit der Viennale-Fototapete und Blick über Wiener Stadtpark und einem Stockwerke überspannenden Baustellenplakat mit dem Slogan „Freiheit atmen“. Das bulgarische Regieduo Mina Mileva und Sonja Dimitrova wird auf der Viennale ihren feministischen Spielfilm „Women do cry“ zeigen, dessen Hauptfigur ist so jung wie Anne in „L’événement“. Beide Hauptcharaktere eint auch die Konfrontation mit einer unerwarteten Tatsache. Die eine bekommt die Diagnose HIV, die andere ist ungeplant und ungewollt schwanger.

Anamaria Vartolomei tanzt, eine Szene aus "L'événement".

Wild Bunch

Die Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei trägt den Film „L’événement“ von Audrey Diwan.

„Ein Manifest für Freiheit“

Donnerstagabend eröffnet das größte Filmfestival Österreichs mit „L’événement“, der medial unter „Abtreibungsdrama“ läuft. Ein Manifest für Freiheit und Anmut ist der Film für Viennale Chefin Eva Sangiorgi. Es gehe nicht allein um das Recht auf Selbstbestimmung, sondern grundsätzlich um Freiheit, sagt Sangiorgi im kürzlich wieder eröffneten und renoviert glänzenden Gartenbaukino.

Nächstes Jahr wird die Viennale 60 und zurück in das Jahr katapultiert uns der Eröffnungsfilm. In Österreich wie auch in Frankreich waren damals die Geschlechterrollen noch festgefahrener und Abtreibung verboten. Doch bevor es im Viennale Eröffnungsfilm „L’événement“ ans Zähne-Zusammenbeißen geht, begegnen wir drei lebenslustigen Freundinnen, die einander die Büstenhalter und Röcke mit Sicherheitsklammern höherstecken für Tanzabende mit jungen Männern. Sie wünschen sich Sex und sie wollen auf die Uni, sie sind im Vorstudium.

„Wenn ich die Prüfungen nicht bestehe, sitze ich nächstes Jahr auf einem Traktor“, erklärt eine der Freundinnen ihre Motivation. Anamaria Vartolomei spielt die begeisterte Literaturstudentin Anne Duchesne – das ist der Mädchenname von Annie Ernaux, denn auf deren autobiografischen Roman basiert der Spielfilm. Im elterlichen Gasthaus steckt die Mama ihr Geld zu, Anne solle sich einen guten Roman kaufen. Die Mutter wünscht sich für ihr Kind ein anderes Leben.

Anamaria Vartolomei, Audrey Diwan und Eva Sangiorgi vor dem großen Vorhang vor der Leinwand im Gartenbaukino.

Viennale

Red Carpet Chic für die Viennale! Schauspielerin Anamaria Vartolomei, die Regisseurin des Eröffnungsfilms Audrey Diwan und Viennale-Intendantin Eva Sangiorgi.

Wer Bücher von Annie Ernaux gelesen hat, weiß um die gesellschaftspolitische Dimension, die im Film etwas aus dem Bild rückt. Der Blick verengt sich auf Anne. „Ich bin schwanger, ich will weiter studieren“, erklärt sie Ärzten, aber auf Abtreibung steht eine Haftstrafe. Freundinnen, die zuvor selbst den Kaugummi mit Anne teilten, wollen „davon“ nichts wissen. Anne wird ihren Plan bis zum Überlebenskampf verfolgen. Als Zuschauer*in schaut man ihr oft über die Schulter, läuft dicht hinter ihr her und wird dabei manchmal auch zurückgelassen.

„Ich hoffe, sie kommen heute Abend mit uns mit, mit den Augen, der Haut und dem Körper unserer Heldin Anne und dass Sie ihren Schmerz erleben, aber vor allem auch ihr sehnliches Verlangen nach Freiheit“, wünschte die Schauspielerin Anamaria Vartolomei dem Publikum der Viennale-Eröffnung, bevor sich der frischgewaschene, rote Theatervorhang vor der Kinoleinwand hob. Regisseurin Audrey Diwan betreibt kein ausbeuterisch-ausstellendes Körperkino, sie kann aber für diese Geschichte nicht auf jene drastischen Szenen verzichten, die für den Horror geheimer Abtreibungsversuche stehen.

Drei Freundinnen, eine Szene aus "L'événement" von Audrey Diwan.

Wild Bunch

„L’événement“ erzählt vom Jungsein Anfang der 60er Jahre und ist doch von trauriger Aktualität, was die Bestrebungen reaktionärer Kräfte nach Haftstrafen für Frauen nach Abtreibungen betrifft.

  • FM4 präsentiert „Annette“ am 29.10. um 23 Uhr im Gartenbaukino
  • FM4 Homebase zur Viennale am 27.10. (19-22 Uhr)
  • Die Viennale auf FM4

In der Nähe zur Hauptfigur und in der großen Sympathie für diese als auch in deren Entschlossenheit erinnert „L’événement“ an Eliza Hittmans „Never Rarely Always Sometimes“, der formal aber strenger erzählt ist. Schön ist, dass Audrey Diwan ihrer Anne im Film Glücksmomente gönnt. Und die Nebenfiguren vermögen zu überraschen, wenn sie Aufmerksamkeit bekommen.

217 Millionen Frauen weltweit haben keinen Zugang zu Verhütungsmitteln, halten die Vereinten Nationen im Bericht des Weltbevölkerungsfonds 2021 fest. Welch große Rolle Faktoren wie Religion und Geschlechterrollen als „Societal factors“ spielen, ist da auch zu lesen: Die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln, gerade auch für junge Frauen, ist eine Grundlage, das Aufbrechen von Stigmatisierung und Tabus eine weitere.

Ticket-Tetris für Mia Hansen-Løve und Matt Dillon

Wer beim Ticket-Tetris schon erfolgreich war, kann dieses Jahr in den Viennale-Kinos wieder neben Freund*innen sitzen, es gilt die freie Platzwahl im Vorverkauf. Der diesjährige Trailer kommt vom britischen Filmemacher Terence Davies, dem die Viennale eine Monografie widmet.

Freuen dürfen wir uns auch auf Mia Hansen-Løve. Auf der Diagonale war die französische Regisseurin 2015 zu Gast für eine Personale, Sonntagabend wird ihr neuer Film „Bergman Island“ auf der Viennale Österreich-Premiere feiern.

Zum Festival nach Wien kommt auch Matt Dillon, der in Shirin Neshats neuem Spielfilm „Land of Dreams“ einen Bodyguard spielt. Täglich ab 16 Uhr öffnet die Viennale-Bar für alle mit 2G-Nachweis und abends wird sie zum Club, etwa mit Lars Eidinger als DJ und am 29.10. zum FM4-Club mit Sofie, Lil Promise & ReZa. Voilà!

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