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MARC CARNAL

Die Erlebnisse der Kolumnen-KI

Was kommt raus, wenn eine KI die Kolumne “Erlebnis mit Oma und Jugendlichen im Zug” fertigschreiben soll?

Eine Kolumne von Marc Carnal und GPT-2

Eine Statistik muss nicht unbedingt falsch sein, nur weil sie erfunden ist. Die folgende erfinde ich soeben, glaube aber trotzdem, dass eine wissenschaftliche Erhebung zum exakt gleichen Ergebnis führen würde: 93,6 Prozent aller Kolumnen handeln von Erlebnissen in öffentlichen Verkehrsmitteln. Davon wiederum sind über 80 Prozent frei erfunden.

Da viele Kolumnist*innen dazu neigen, mit ihren lieblos hingeschluderten Textchen erst knapp vor Redaktionsschluss zu beginnen, wäre es gerade für diese Berufsgruppe dringend an der Zeit, eine KI zu entwickeln, die ihnen die lästige Arbeit abnimmt und in Sekundenschnelle perfekte Kolumnen schreibt. Eine solche gibt es wahrscheinlich sogar schon: GPT-3 soll bahnbrechende Ergebnisse erzielen, wenn es um das Vervollständigen oder Generieren von Texten geht. Bis die Software endlich veröffentlicht wird und das Internet mit Fakenews zuballert, muss man sich mit der Vorgänger-Version GPT-2 begnügen. Die ist längst nicht so gut, dürfte aber für die meisten Kolumnen vollkommen reichen.

Ich habe für den Erstversuch also einen handelsüblichen Kolumnen-Anfang geschrieben, der alles beinhaltet, was eine durchschnittliche Bezirksblatt-Glosse braucht: Totgedroschenes Setting, sinnlose Detail-Infos, ein bisschen Crosspromo für eine befreundete Autorin und dann eine erfundenes Fertigteil-Erlebnis mit kulturpessimistischen Untertönen:

Ich mache es mir gerade auf einem freien Doppelsitz im Intercity nach Salzburg bequem, ausgerüstet mit einem Pastrami-Sandwich und voller Vorfreude auf den neuen Roman von Doris Knecht, als zwei Jugendliche schräg gegenüber Platz nehmen. Die beiden starren mit müden Augen in ihre Smartphones, wechseln kein Wort und scheinen ein Tictoc-Video nach dem anderen zu „bingen“, wie man Neudeutsch zu sagen pflegt. Ich will mich schon der Lektüre widmen, da steht eine ältere Dame vor mir auf, dreht sich zu den beiden Teenagern um und erhebt drohend ihren Gehstock. Mit heiserer Stimme herrscht sie die handysüchtigen Halbwüchsigen an: “

So weit, so langweilig. Schreibzeit: Zwei Minuten. Jetzt muss nur noch die Oma einen charmanten Tadel rausballern, die Jugendlichen müssen apathisch und/oder respektlos reagieren und schon folgt ein zusammenfassender Schlusssatz, der den Bogen zum Anfang spannt. “Wieder einmal wird mir bewusst, warum ich im Zug am liebsten Bücher lese”. Oder IRGENDSOWAS HALT! Ist doch wurscht.
Was wäre aber, wenn die KI mit dem Kolumnen-Anfang gefüttert wird und daraus errechnet, was die Oma zu den Jugendlichen sagt? Würde das die Kolumne würzen, gar retten? Let’s put it to the test:

1) Mutter

...Ich will mich schon der Lektüre widmen, da steht eine ältere Dame vor mir auf, dreht sich zu den beiden Teenagern um und erhebt drohend ihren Gehstock. Mit heiserer Stimme herrscht sie die handysüchtigen Halbwüchsigen an: “Ich habe für eine Ticker-Aussage längst nicht schlafen gehabt. Die Lachanstiege gehen weiter. Oder zurück zu Ihnen?” Ich liebe meine Mutter.

Das ist schon mal nicht schlecht. Die Oma ist in dieser Version einige Nächte durchgemacht, um für einen Live-Ticker zu arbeiten, was sich offensichtlich auf ihr Sprachzentrum geschlagen hat. Dann der große Reveal: Es handelt sich offensichtlich um die Mutter der Kolumnistin!

2) Interview

...Ich will mich schon der Lektüre widmen, da steht eine ältere Dame vor mir auf, dreht sich zu den beiden Teenagern um und erhebt drohend ihren Gehstock. Mit heiserer Stimme herrscht sie die handysüchtigen Halbwüchsigen an: “Ja, dass das so ist.”
Mit der Frage, wie es mit ihrem neuen Roman aussieht, meint Doris Knecht: „Es sind sehr viele gerade unter 18 oder 19 Jahre alt und erst am Tag nach der Erstausstellung eingeladen worden, sich auszutauschen. Zweimal war ich schon gefragt, ob ich ein Buch schreiben werde, damit ich meinen Schreibtisch behalten und die Pause aufrecht kriegen kann.“

Auch sehr gut. Ein wirklich gelungener Plottwist, dass die Oma einfach irgendwas sagt, und dann plötzlich ein Interview mit Doris Knecht folgt, in dem sie auf etwas rätselhafte Weise ihre Existenzängste schildert. Wünschen wir Frau Knecht, dass sie ihren Schreibtisch behalten kann!
Eines geht noch:

3) Krass

...Ich will mich schon der Lektüre widmen, da steht eine ältere Dame vor mir auf, dreht sich zu den beiden Teenagern um und erhebt drohend ihren Gehstock. Mit heiserer Stimme herrscht sie die handysüchtigen Halbwüchsigen an: “Ich war in Wien."
„Und das war für dich nicht so leicht gekommen?“
„Es war schon krass.“

Spitze. Hier steigt die Oma als Heldin aus, weil sie die beiden Smombies mit voll der krassen Jugendsprache überrascht.

4) KZ „Dora“

Wenn die KI in der Lage ist, derart gute Kolumnen zu schreiben, könnte ich mir vielleicht noch weniger Arbeit machen und GPT-2 überhaupt nur mit dem einleitenden Satz füttern. Mal sehen, was dann so passiert im Zug:

Ich mache es mir gerade auf einem freien Doppelsitz im Intercity nach Salzburg bequem, ausgerüstet mit einem Pastrami-Sandwich und voller Vorfreude auf den neuen Roman von Doris Knecht, als zwei Jugendliche schräg gegenüber Platz nehmen. Die 20-jährige Florentine ist am fünften Tag ihres ersten Kriegszustandes ins KZ „Dora“, als sie mit ihrem Mutter, ihrer großartigen Onkel und ihrer ehemaligen Lehrerin die Schlacht von Stalingrad verloren.

Ok, das wird es vielleicht nicht in den Freizeit-Kurier schaffen.
Noch ein Versuch:

5) Hohenzollernbrücke

Ich mache es mir gerade auf einem freien Doppelsitz im Intercity nach Salzburg bequem, ausgerüstet mit einem Pastrami-Sandwich und voller Vorfreude auf den neuen Roman von Doris Knecht, als zwei Jugendliche schräg gegenüber Platz nehmen. Die Musikerin lebt hinter der tiefgelassenen Breite des Bahnhofs am Füße der U-Bahn-Haltestelle U1; hier ist sie ja eigentlich nicht zu finden. Zwischen drei Stationen des überfüllten U-Bahn-Tunnels der Hohenzollernbrücke steht zwischen Mitte und Zentrum ein Existenzbunker der DDR, der hinter Münchener Kirchen für die Revolte von Januar 1956 kam.

Na gut, auch diese Fortsetzung ist sowohl semantisch als auch historisch ziemlicher Bullshit.

Fazit

Künstliche Intelligenz ist mittlerweile in der Lage, halbfertige Kolumnen zu Ende zu schreiben. Für komplette Texte muss wohl GPT-3 her. Zwei, drei Jahre lang müssen sich Kolumnist*innen also noch Halbgares über Zug-Erlebnisse, Tinder-Dates oder Tomatensaft im Flugzeug aus den Fingern saugen, bis dann endlich die KI übernimmt. Durchhalten!

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