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Ein kleiner Bub streckt die Arme aus und schaut aus einem Autodachfenster. Szene aus "Hit the Road".

Viennale

Freiheit, Liebe und die Viennale: „Film darf nicht nur Content sein, sondern Kunst!“

Um Liebe und Freiheiten dreht sich die Welt, der Viennale-Freitag macht da keine Ausnahme: Von Gaspar Noés realistisch inszeniertem „Vortex“ über Panah Panahis „Hit the Road“ zu „Große Freiheit“ mit Franz! Rogowski! Und Georg! Friedrich!

Von Maria Motter

Buben mit Topffrisuren erobern alle Herzen. Und der herzigste Film dieser Viennale heißt „Hit the Road“ („Jaddeh Khaki“). Es ist das Spielfilmdebüt von Panah Panahi, dem Sohn des auf europäischen Festivals gefeierten Regisseurs Jafar Panahi, der in seinem Heimatland Iran für seine Arbeit schon in Haft saß und eigentlich Berufsverbot hat, aber trotzdem Filme dreht („Taxi Teheran“, „Drei Gesichter“).

„Hit the Road“ ist super lustig und ein wahres Kinovergnügen. Und schließlich steht in diesem herausragenden Roadmovie nichts weniger als die Freiheit auf dem Spiel. Um Liebe und Freiheiten drehen sich die Welt und dieser Viennale-Freitag. Von Gaspar Noés realistischer Erzählung „Vortex“ im Splitscreen über die Plage Demenz, über „Hit the Road“ zu Sebastian Meises „Große Freiheit“ mit Franz Rogowski und Georg Friedrich. Doch bevor das ein Franz Rogowski-Appreciation-Eintrag ins Viennale-Tagebuch wird, schauen wir in den Iran, weil wir in Österreich das im Kino können.

Junge Dame an der Kassa im Gartenbaukino in Wien auf der Viennale, ein Blumenstrauß in einem Mehrzweckbecher steht neben ihr.

Maria Motter

Der jungen Dame am Kartenschalter im Gartenbaukino brachte gestern früh jemand Blumen für ihre Freundlichkeit.

Panah Panahis Debütfilm „Hit the Road“ ist entzückend

Panah Panahi ist 37 Jahre alt, für seinen ersten Film hat er im Iran eine Bewilligung für Videovertrieb und nicht fürs Kino. Die Bewilligung für Videovertrieb gebe es auch nur, damit unabhängige Filmemacher nicht zuviel Wirbel machen. Jetzt ist Panah Panahi auf europäischen Festivals: Das Publikum feiert ihn und seinen Kinderschauspieler Rayan Sarlak.

Viennale 2021

Der Sechseinhalbjährige in “Hit the Road“ („Jaddeh Khaki”) ist mit seinen Eltern und einem jungen Mann im Auto unterwegs. Im Kofferraum haben sie einen alten Hund. Sie kommen aus Teheran und ihr Ziel kommt erst im Lauf der Handlung in Sicht. Der Bub spielt auf dem Gipsbein des Vaters auf einer aufgemalten Tastatur, während das Kinopublikum ein Stück von Bach hört. Er spricht vom „Bruderherz“ und meint den schweigsamen Mann Anfang 20 am Fahrersitz. Er küsst den Boden und rezitiert Gebete in kindlicher Überzeugung. Die Eltern necken einander in tiefer Zuneigung. Die Mutter in diesem Auto lacht viel und gibt oft den Ton an.

Fast ist es ein Filmwunder: Diese Familie liebt einander. Ihre Gespräche sind Liebeserklärungen und mit Humor geführte, kleine Schlagabtäusche. So unterzieht der Vater den Buben bald einer harmlosen Predigt, weil er sein Handy nicht herausrückt. Dort, wohin die Familie unterwegs ist, sind Handys eine Gefahr. In „Hit the Road“ ahnt man von Anfang an, dass diese Familie keinen Campingurlaub vorhat, sondern der Familienwagen zugleich ein Fluchtauto ist.

Eine Mutter steht in einer Berglandschaft im Iran. Filmszene aus "Hit the Road".

Viennale

Die Bezeichnung „Tragikomödie“ liest man oft für Filme, in denen man dann drei Mal schmunzelt. „Hit the Road“ ist hingegen wirklich eine. Panah Panahi erzählt auf der Viennale von den Dreharbeiten. An jedem Drehtag traf er sich „auf Augenhöhe“ mit dem Buben: Sie haben sich unterhalten und gespielt. „Ich habe versucht, ihn auf diese Energiestufe und auf die Anspannung hinzubringen, die für die jeweilige Szene notwendig waren, und wenn er soweit war, haben wir gedreht“, so Panahi. Der Text war nicht improvisiert, den hatte der Bub mit seiner Mutter gelernt – er konnte damals noch nicht lesen. „Er konnte ihn erstaunlich gut umsetzen“, sagt Panahi, „Aber trotzdem: Ich werde nie wieder mit Kindern arbeiten!“. Schon wieder muss man laut lachen – „überdreht“ heißt es manchmal über Kinder, die ihr Kindsein leben dürfen. Gute Nachricht: „Hit the Road“ hat einen Filmverleih in Österreich!

Franz Rogowski! Georg Friedrich! „Große Freiheit“!

Da knüppelten Männer andere Männer nieder, weil die sich umarmten. Das muss man sich mit „Große Freiheit“ vor Augen führen. Und sie taten Schwulen noch mehr an, ganz legal: Über 123 Jahre konnten Leute in Deutschland anderen Menschen mit dem Paragraf 175 das Leben zur Hölle machen.

So weit zurück geht „Große Freiheit“ nicht, die Zeitspanne ist zwischen 1945 und 1969 gewählt. Dem Hauptcharakter Hans Hoffmann ist das KZ noch anzusehen, das kurze Haar hat kahlere Stellen und für den Teil, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 spielt, hat der Schauspieler Franz Rogowski so abgenommen, dass sein Gesicht spitz ist. Regisseur Sebastian Meise und dem Ko-Drehbuchautor Thomas Reider gelingt mit „Große Freiheit“ ein inniger, erschütternder, großer Film. Und Franz Rogowski und Georg Friedrich können so fantastisch spielen, da bedarf es nur weniger, punktgenauer Dialoge.

Filmstill "Große Freiheit"

Viennale

„Große Freiheit“ startet am 19. November in den Kinos – mehr dazu von Philipp Emberger!

Sebastian Meise und Thomas Reider haben auf der Diagonale auf sich aufmerksam gemacht mit dem Spielfilm „Stillleben“ (2011, ausgezeichnet als bester Spielfilm) und der Doku „Outing“ (2012), in der ein pädophiler junger Mann erschütternd ehrlich aus seinem Leben berichtete. Immer wieder habe ich die Seite der Freibeuter Filmproduktion aufgerufen, um zu schauen, ob Meise wieder einen Film fertiggestellt hat. Und jetzt ist „Große Freiheit“ in Österreich angekommen, in Cannes bereits ausgezeichnet mit einem Jurypreis in Cannes, dem Hauptpreis des Sarajevo Filmfestivals, und während der Viennale war die „Große Freiheit“ in Hamburg und in Chicago auf den Filmfestivals zu sehen. Das sei auch dem österreichischen Fördersystem zu verdanken, sagt Oliver Neumann, einer der Produzent*innen von Freibeuter Film, gestern Abend bei der Österreich-Premiere: „Film darf nicht nur Content sein, sondern auf Kunst“.

Franz Rogowski kann schauen, dass man alles zu wissen glaubt

Franz Rogowski habe ich das erste Mal auf der Leinwand im Movimento in Linz gesehen am Crossing Europe: In Jakob Lass’ klassem „Love Steaks“ hauen sich zwei Verliebte brutal in einem Kurort. Damals hieß es, Rogowski sei eigentlich Tänzer. In „Victoria“ (2015) - dem Berlinfilm, den Sebastian Schipper in einem Take drehte, war Franz Rogowski in der Rolle eines Ex-Häftlings mit von der Partie. Ein Monat Vorbereitungszeit mit Probedurchläufen für 140 Stunden Dreh am Stück, Kickboxtraining und Eiweißshakes, dann drei Durchläufe mit Kamera. Michael Haneke nahm Rogowski in „Happy End“ in seinen Cast auf, das Drama hatte 2017 in Cannes Premiere.

Auf die Frage, ob er einer der Schauspieler sei, der seine Karriere in 5- oder 10-Jahreszielen plane oder in der Gegenwart, antwortete Franz Rogowski vor drei Jahren, er sei wie ein eingespannter Esel, der nur den Karren etwas steuern könne. Kunst, Sport und Ethik waren seine Lieblingsfächer in der Schule - gute Voraussetzungen fürs Schauspiel, habe er sich gedacht. Es war die Berlinale 2018, für die Franz Rogowski ins Hotel zieht, weil für den kurzen Weg zwischen Zuhause und Berlinale-Palast keine Zeit mehr ist. Der gebürtige Freiburger ist in dem Jahr einer von zehn europäischen “Berlinale Shooting Stars" und gleich in zwei Wettbewerbsfilmen in der Hauptrolle zu sehen.

Szenen aus dem Film "In den Gängen"

Polyfilm

Sandra Hüller und Franz Rogowksi in Thomas Stubers „In den Gängen“.

„In den Gängen“ lernt er als schweigsamer Christian Gabelstaplerfahren in einem Großmarkt im Osten Deutschlands und hofft auf Kaffeeautomatenpausen mit einer Kollegin (Sandra Hüller). Man suche oft als Spieler verzweifelt nach etwas, das wahrhaftig sein könnte, sagt Rogowski bei der Pressekonferenz auf der Berlinale, „und eine Tonne Bier ist unglaublich wahrhaftig und sehr hilfreich beim Spielen. Ansonsten kann ich sagen, dass beim Staplerfahren nach links kurbeln nicht automatisch bedeutet, dass der Stapler auch nach links fährt“. Humor und Zurückhaltung zeichnen Franz Rogowskis Interviews aus.

Zum ersten Mal spielt er 2018 auch in einem Film von Christian Petzold. In der großartigen Verfilmung von Anna Seghers 1944 erschienen Roman „Transit“ flieht er als Georg vor den Nazis nach Marseille, wo er die Dokumente eines Schriftstellers an sich nimmt, in dessen Frau er sich wenig später verlieben wird. Der Regisseur Christian Petzold versetzte die Handlung des Flüchtlingsdramas im Zweiten Weltkrieg so einfach wie genial in die Gegenwart. Und die Figuren tragischer Stoffe bekommen von Franz Rogowski keine Mitleid erhaschende Darstellung.

Szenenbild "transit"

Stadtkino

Paula Beer und Franz Rogowski in „Transit“. Neben „Große Freiheit“ ist Rogowski dieses Jahr auch in Peter Brunners „Anti-Exorzismus-Film“ „Luzifer“ und Gabriele Mainettis „Freaks Out“ in Hauptrollen auf Festivals in den USA und Europa zu sehen.

Was Georg in „Transit“ weiß, sagt er Marie Weidel (Paula Beer) nicht und die ohnehin bedrohliche Lage wird noch mit Sehnsucht und Bangen um die Liebe heftiger. „Transit“ hätte damals wie heute so viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Es ist ein Jahrhundertfilm.

„Ein Liebespaar zu spielen, ist das Schönste und das Schwierigste zugleich“, sagt Paula Beer im Vorjahr auf der Berlinale. Für ihre Darstellung der „Undine“ in Christian Petzolds jüngstem Spielfilm bekommt sie den Silbernen Bären als beste Schauspielerin. Den Bären will sie auch als Auszeichnung für ihren „wundervollsten Spiel-Mann“ und Kollegen Franz Rogowski verstanden wissen. In „Undine“ sieht man Franz Rogowski unter Wasser schweißen. Das wird eine kitschige Metapher, doch es ist so faszinierend wie Rogowskis Schauspiel. Und falls jemand fragt: Mit Regisseurinnen hat der gute Mann klarerweise auch schon gearbeitet, mit Uisenma Borchu für „Schwarze Milch“ etwa im Film, und am Theater.

Die Viennale 2021 läuft noch heute und morgen, Sonntag. Mein Sonntagssport wird das Anstellen um ein Restticket für „Futura“: Jugend in Italien!

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