EuGH vor nächstem Urteil gegen Vorratsdatenspeicherung
Von Erich Moechel
Der am Donnerstag veröffentlichte Schlussantrag des Generalanwalts am EU-Gerichtshof (EuGH) zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland und Irland ist zwar nicht bindend. Doch diesmal bestehen keine Zweifel, dass der Spruch des EuGH diesem Schlussantrag jedenfalls folgen wird.
Im Schlussantrag wird nämlich darauf verwiesen, dass alle vier EuGH-Urteile dazu seit 2014 fast gleichlautend negativ ergangen seien. Die nationalen Gerichte mögen ihre Urteile daraus doch selbst ableiten, anstatt den EuGH immer wieder zu bemühen, hieß es. Die für Jänner angekündigte EU-Verordnung zur flächendeckenden Chat-Durchsuchung zeigt auffällige Ähnlichkeiten mit der Vorratsdatenspeicherung.
EU Kommission
Nächste Vorratsdatenspeicherung ante portas
Die Pläne zur Chat-Kontrolle wurden nach mehrfachem Wechsel der Methoden zuletzt auf Anfang 2022 verschoben.
Am Dienstag hatte Kommissarin Ylva Johansson in einer Grußadresse an den Europarat (siehe oben) betont, dass sie für die „Notfallsgesetzgebung“ der EU verantwortlich sei, die Internetkonzernen die Durchsuchung aller Inhalte ihrer Benutzer:innen erlaube. Das sei aber nicht genug und deshalb arbeite sie an einer langfristig wirksamen Regelung, die Internetfirmen dazu auch verpflichte. Noch jede der EuGH-Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung hatte als obersten Kritikpunkt, dass eine verdachtslose Erfassung und Verarbeitung personenbezogener Daten sämtlicher Nutzer:innen für Strafverfolgungszwecke nicht mit EU-Recht vereinbar sei.
Egal, mit welcher Methode welcher physischer Speicher - ob Cloud oder die Smartphones der Benutzer:innen - von sogenannter „Künstlicher Intelligenz“ (KI) routinemäßig durchsucht wird, braucht es danach eine Vorratsdatenspeicherung. All jene Fotos und Videos, bei denen die KI-Algorithmen eine bestimmte Wahrscheinlichkeit errechnet hatten, dass es sich um „Kinderpornographie“ handeln könnte, müssen an einen eigenen Speicherort kopiert & mit dem jeweiligen Benutzerprofil verknüpft werden. Je nach KI werden dann wohl weitere Datenverarbeitungen notwendig werden, um die Zahl der falschen Treffer („False Positives“) zu begrenzen. Die sind bei sämtlichen KI-Anwendungen nämlich das Hauptproblem.
Europäischer Gerichtshof
Mit Scoring zum Anfangsverdacht
Erst im März hatte der EuGH gegen Estland das vierte Urteil in Sachen Vorratsdatenspeicherung gefällt.
All die oben beschriebenen Datenverarbeitungen laufen automatisch ab, noch ohne dass irgendein konkreter Verdacht besteht. Als nächstes folgt das sogenannte „Scoring“, wie es auch Banken zur Berechnung der Kreditwürdigkeit seit Jahrzehnten verwenden. Das heißt, ab einer von den KI-Betreibern selbst festgelegten Schwelle von solchen auf Vorrat gespeicherten „Treffern“ werden die betreffenden Bilder und Videos an die jeweiligen Strafverfolger übermittelt. Apple hatte diese Schwelle bei seinem Feldversuch mit 30 Treffern festgelegt, die angesammelt werden müssen, bevor die erste solche Datenübermittlung passiert. Apple geht also von einer immensen Quote an falschen Treffern durch die eigenen Algorithmen aus.
Bis dahin besteht noch gegen niemanden ein Anfangsverdacht, davon ist frühestens dann zu reden, sobald die kritische Marke erreicht ist und das gesammelte Konvolut an die Strafverfolger übermittelt wird. Hier geht die Chat-Kontrolle noch weit über die Vorratsdatenspeicherung hinaus, denn genau solche Praktiken des verdachtslosen Data-Mining in allen Datensätzen waren da ausnahmslos und explizit verboten. Auf die Vorratsdaten durfte nur anlass- und personenbezogen zugegriffen werden und das auch nur mit einer richterlichen Genehmigung. Bei der Chat-Kontrolle ist nichts dergleichen an rechtsstaatlichen Mitteln vorgesehen.
Europäischer Gerichtshof
Chat-Überwachung, chinesische Verhältnisse
Mit dieser Schlusserklärung hat der Generalanwalt den Regierungen Europas ziemlich deutlich ausgerichtet, dass jeder weitere solche Fall zur Vorratsdatenspeicherung, der von nationalen Gerichten an den EuGH zur Entscheidung delegiert wird, ebenso beurteilt werden wird. Hardliner der Konservativen, aber auch der Sozialdemokraten, können sich - und Europa - also weitere Versuche ersparen, die seit 2014 unveränderte Rechtssprechung des EuGH mittels neuer Verfahren auszuhebeln.
Die Aufforderung des Generalanwalts an die nationalen Gerichtsbarkeiten, aus den bisherigen Urteilen selbst Schlussfolgerungen in vergleichbaren Fällen abzuleiten, richtet sich auch an die juristischen Dienste von Ministerrat und Kommission. Die sind in diesen Wochen nämlich damit beschäftigt, die Verordnungspläne von Kommissarin Ylva Johansson auf ihre EU-Rechtskonformität zu überprüfen. Die juristische Begründung, dass eine anlasslose automatisierte Überwachung sämtlicher Kommunikationen aller Teilnehmer:innen auf allen Chat-Plattformen samt Vorratsdatenspeicherung, - also chinesische Verhältnisse - rechtskonform zur Datenschutzgrundverordnung und der EU-Charta durchgeführt werden kann, wird nicht nur für Jurist:innen unterhaltsam zu lesen sein.
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Publiziert am 21.11.2021