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FM4 Im Viertel – Anger in Südtirol

Florian Wörgötter

FM4 Im Viertel

ANGER in Brixen: „Wir sind der Berg!“

In FM4 Im Viertel #14 zeigt das Pop-Duo ANGER seine Heimatstadt Brixen in Südtirol. Nora Pider und Julian Angerer gondeln auf ihren Hausberg Plose, sprechen über ihre austro-italienische Identität, ihre gemeinsame Liebe und performen erstmals einen Song ohne Autotune-Effekt auf der Stimme.

Von Florian Wörgötter

Auf 2.050 Metern Seehöhe steigen wir aus der Gondel der Brixener Seilbahn. Hier auf der Plose hat das Südtiroler Popduo ANGER die meiste Lebenszeit verbracht. Julian Angerer und Nora Pider erinnern sich zurück – an das tägliche Snowboarden nach Schulschluss, an Recordingsessions im gemieteten Berghaus und an die vielen Skitouren im Lockdown letzten Jahres, den sie statt im Hauptwohnsitz Wien in ihrer Heimatstadt Brixen verbrachten.

„Bilderbuch singen, ,Von wo wir sind, können wir die Berge sehen’. Wir sagen: Von wo wir sind, sind wir die Berge. Schaug!“, zeigt Julian auf die Spitzen des Dolomitenpanoramas. Nora ergänzt: „Des isch mein Berg! Wenn ich von hier den Peitlerkofel sehe, fühle ich mich so verbunden.“

An der Bergstation steht in lebensgroßen Lettern der Schriftzug „P-L-O-S-E“ aufgestellt. Im O ist auf einem rotierenden Gestell ein Fahrrad montiert, auf dem man einen Looping drehen kann. Fragt man die beiden nach dem einen Loop, der in Südtirols drittgrößter Stadt die Musik macht, dann meinen sie: „Unter der Woche: Viel arbeiten – egal was, Hauptsache viel. Am Wochenende: Am Berg sein – beim Wandern, Skifahren, Biken oder Paragleiten.“

Immerhin einmal im Monat wollen die beiden auch Teil dieses Loops sein, wenn sie von Wien im Fünfsitzer-„Tourbus“ über den Brenner nach Südtirol fahren. Ihre große Vision: Ein eigenes Berghaus als Refugium, wo sie ihre Musik produzieren und gleichzeitig Skifahren können. Dauerhaft ihre Hütte in Brixen einzurichten, können sich die beiden Stadtmenschen kaum vorstellen. Sie bevorzugen ihren „Urlaubsstatus“ in Brixen und das „Hackeln" in der Musikszene der Wiener Großstadt.

FM4 Im Viertel: Eine Reportagereihe

In der Radioreihe FM4 Im Viertel spaziert Florian Wörgötter mit österreichischen Musiker*innen durch ihr Wohnviertel. Beim Flanieren durch spannende Gegenden erfahren wir, wie die Künstler*innen leben, wie ihr Grätzl klingt und wie sich dieser Sound in ihrer Musik wiederfindet.

Der lange Weg in die Autonomie

Julian und Nora haben ihr Leben gut eingependelt zwischen der österreichischen und der italienischen Kultur. Die beiden verkörpern eine neue Generation von Südtiroler*innen, die sich der schwierigen Geschichte ihrer Großeltern zwar bewusst ist, ihre Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt aber als bereichernd begreift.

FM4 Im Viertel – Anger in Südtirol

Florian Wörgötter

Zum Verständnis ein Rückblick: Nach 500 Jahren im Habsburgerreich wurde Südtirol nach dem Ersten Weltkrieg Italien zugesprochen. Im Faschismus unter Mussolini wurde die deutsche Sprache unterdrückt, um die Südtiroler*innen zu „italianisieren“. Ein Abkommen mit Hitler ermöglichte ihnen die „Option“, entweder ins deutsche Reich umgesiedelt zu werden oder sich in Italien von der eigenen Kultur loszusagen. 86 % Prozent votierten damals für die Abwanderung; ein Teil davon ging; nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten die meisten zurück in eine gespaltene Gesellschaft.

Ein langes Ringen um Autonomie begann – größtenteils auf politischer Ebene, vereinzelt auch im bewaffneten Widerstand einer Minderheit. Heute verfügt die Autonome Provinz Bozen – Südtirol über weitgehende Selbstverwaltung, Eigenständigkeit in vielen Budget- und Gesetzesfragen und Zweisprachigkeit. In Brixen aka Bressanone lebten 2011 rund 21.000 Menschen – drei von vier zählen zur deutschen Sprachgruppe, jede*r Vierte zur italienischen Sprachgruppe, 1,34 % zur ladinischen Sprachgruppe.

Austro-Italo-Vibes

„Wer wir sind und wo wir herkommen, war die große Frage unserer letzten zwei Jahre“, meint Julian. Das einstimmige Ergebnis: „Wir sind alles. Wir sehen uns als Europäer*innen, die alle Sprachen sprechen“. Da sie auch von allen verstanden werden wollen, schreiben sie ihre Songtexte in deutscher Hochsprache, auf Italienisch, Englisch und neuerdings auch im Südtiroler Dialekt. Auch Nora kann sich nicht dichotom zuordnen und hat „das Beste beider Kulturen in sich aufgesaugt“.

FM4 Im Viertel – Anger in Südtirol

Florian Wörgötter

Wobei: Julian bringe definitiv die „Italo-Vibes“ mit, scherzt Nora, was seine 300-Euro-Gucci-Brille, die goldenen Ohrringe und seine Lederhose im „Milano-Style“ unterstreichen würden. „Ich bin ja auch Italiener – zumindest steht das in meinem Pass“. Und im Herzen? „In der Musik und beim Fußball schlägt es für Italien, sonst definiere ich mich nicht über Nationen.“

Seitdem er aber beim Videodreh zum Dialektpop-Song „Highspeed“ um vier Uhr morgens erlebt hat, wie ihm der Sonnenaufgang zwischen zwei Bergspitzen den schönsten Anblick seines Lebens bescherte, sind ihm die Berge näher als das Meer.

Wo ist die Liebe?

Wir pausieren unsere Wanderung auf einer Almwiese zwischen Wasserbrunnen und Kuhfladen. Der perfekte Ort für eine Weltpremiere: Julian packt seine Akustikgitarre aus der Tasche und singt mit Nora erstmals ein Duett ohne die gewohnte Autotune-Künstlichkeit auf ihrer Stimme. An diesem strahlenden Herbsttag könnte ihre Performance von „Wo ist die Liebe“ ohne Ton als Schlager-Schmonzette durchgehen.

Wenn der Heimatbezug von ANGER unter dem Zeichen des Berges steht, dann steht ihr musikalisches Schaffen unter dem Stern von Amore. Kaum ein Song widmet sich einem anderen Thema als einer Liebesbeziehung zwischen bedingungslosem Begehren und tiefer Trennungsangst.

Weil die Liebe in ihrer Kunst allgegenwärtig ist, haben sie auch kein Problem, über ihre eigene Liebe zu reden: Julian und Nora führen seit der Schulzeit eine zehnjährige Beziehung. Wie sie Privates und die Kunst unter einen Hut bringen? „Wir müssen sehr viel reflektieren, darüber reden und streiten. Das kommt einfach in unseren Songs raus“, sagen die beiden.

„Wir machen alles zusammen – teilweise fast schon zu viel“. Sie schreiben und produzieren ihre Songs gemeinsam, haben die gleichen Freundeskreise in Brixen und in Wien, sie fahren immer zusammen in den Heimaturlaub. Und nun betreiben sie auch ihr eigenes Label. Das „Problem“ sei aber maximal, dass sie mit dieser Nähe kein Problem hätten.

FM4 Im Viertel - Anger in Südtirol

Florian Wörgötter

Ob sich ANGER vorstellen könnten, jemals ein Soloalbum zu produzieren? Oder wäre das schon Ehebruch? „Jul sollte ein Italo-Trap-Album machen – und ich manage ihn“, meint Nora. „Geil wäre, wenn Nora meine Songs produzieren würde – und wie ein Studio-Produzent das letzte Wort hat“, sagt Julian. „Obo honi des net eh schun?“, fragt sie. Keine Widerrede.

Brixens linke Alternative

Beim Einkehrschwung bringt uns ein freundlicher Kellner mit indischen Wurzeln einen „Russ“. So nennt man den Weißbier-Radler, den man erst standesgemäß schwenken muss, damit sich Weizen- und Zitronensaft vermischen. Dass wir dem „Heiligen Land Tirol“ nahe sind, beweist uns der offenbar „gut integrierte“ Kellner mit einem akzentreichen „Vergelt’s Gott im Himmel“.

FM4 Im Viertel – Anger in Südtirol

Florian Wörgötter

Als wir zurück ins Tal gondeln, schaukelt vor uns eine von zwei Frei.Wild-Gondeln. Der in Deutschland und Österreich höchst erfolgreichen Deutschrock-Band aus Brixen wird immer wieder Nähe zu nationalistischem Gedankengut vorgeworfen. „Frei.Wild übernehmen Brixen ein bisschen – mit einem Tattoo-Store, einem Adventure-Shop, einem Burgerladen – und zu ihrem AlpenFlair-Festival kommen 25.000 Deutsche“, sagt Julian. „Unsere Aufgabe ist es, einen Gegenpol zu schaffen, um zu zeigen, dass aus Brixen nicht nur Rechtsrock kommt, sondern auch aufgeklärte, linke Bands wie ANGER“, sagt Nora.

Weitere wichtige Themen, die das von der Volkspartei (SVP) geführte Brixen beschäftigen: Um sich auf den Klimawandel vorzubereiten, lockt das Stadtmarketing die neue Zielgruppe der jungen, kunstaffinen Intellektuellen. „Eh cool, aber ich will nicht, dass Brixen so cool wird“, sagt Julian. „Brixen soll bleiben wie es ist“.

FM4 Im Viertel – Anger in Südtirol

Florian Wörgötter

Ein weiteres Politikum sei die Begrünung des Hofburggartens und ob André Heller auch hier seine Fantasiegartenschere ansetzen dürfe. Ebenso heiß diskutiert wird, ob eine neue Seilbahn vom Bahnhof über den Ortskern hinauf zur Plose geführt werden soll. Aktuell fährt man fast zehn Minuten mit dem Auto bis zur Talstation den Berg hinauf.

Kreuzigung am Kleiderständer

Zurück im Tal spazieren wir durch die historische Altstadt zum barocken Brixener Dom. Wir trinken einen Espresso im versteckten Hof des ehemaligen „Jazzcafe“, dem 3 Fiori, wo die beiden schon als Kids ungestört Zigaretten paffen konnten. Vor dem im letzten Jahr eröffneten Kulturzentrum „Astra“ zeigt Julian ein Foto vom persönlichen „Beatles-Moment“, als ANGER als frischgebackene FM4-Amadeus-Award-Gewinner*innen auf dem Gebäudedach als Überraschungsact spielten.

FM4 Im Viertel – Anger in Südtirol

Florian Wörgötter

Wir überqueren den Fluss Eisack und spazieren in einer engen Gasse bergauf weiter zum Kellertheater der Gruppe Dekadenz, in dem Nora und Julian in Theater- und Kunstperformances schon einigen „Schas“ fabriziert haben. Nora erzählt von ihrer katholischen Kindheit: Als Großnichte des Brixener Domdekans habe sich alles um die katholischen Feierlichkeiten gedreht.

Später habe sie die patriarchalen Strukturen der Kirche in „crazy Performances“ aufgearbeitet. Einmal habe sie mit viel nackter Haut eine Messe inszeniert, in der sie sich auf einem Kleiderständer kreuzigte. Der Erlöser, Julian im Jesusaufzug, legte sich in ihre mit Joghurt beschmierten Arme, entglitt ihr aber sinnbildlich. Die Botschaft: Die Erlösung findet jeder in sich selbst. Heute glauben beide ans Universum, ans eigene Herz, an die Meditation – und wie könnte es bei ANGER anders sein: an die reine Liebe.

FM4 Im Viertel – Anger in Südtirol

Florian Wörgötter

Zur Schlussfrage eines jeden FM4 Im Viertel-Besuches: Wäre Brixen in Südtirol ein Musikstück, wie würde es klingen?

„Brixen klingt wie eine Messe, in der ein Männerchor zur Kyrie die Comedian Harmonists singt, begleitet von der Blaskapelle und einem Singer-Songwriter im Südtiroler Dialekt, und alles endet mit einem Orgelsolo in Gigi D’Agostino.“

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