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Die Beatles schauen über ein Geländer herunter

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ROBERT ROTIFER

They Don’t Let Me Down

Manche meinen ja, es sei schon zuviel der Beatles-Nostalgie. Bei erster Durchsicht entpuppt sich Peter Jacksons achtstündiges Kammerspiel „Get Back“ über die (nicht ganz) letzten Tage jener kleinen Band aus Liverpool allerdings als ein großes zeitgeschichtliches Dokument. Musikalisch wie politisch.

Von Robert Rotifer

Himmel, ist mir schwindlig nach all der „tobacco depiction“ – ja, nur ein kleiner In-Joke unter uns Leuten, die wir die letzten drei Tage mit den Beatles verbracht haben. Damit wir uns unter vernünftigen Menschen nicht lächerlich machen, hat uns das Monopol Micky Maus vor jedem Zweiunddreiviertelstunden-Teil eindringlich zur „discretion“ geraten – Pah!

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Vorneweg: Nachdem ich der einzige Musikjournalist über fünfzig bin, der es versemmelt hat, sich im Vorhinein für den Presse-Screener von „Get Back“ anzumelden, musste ich mir diese Wagner-Oper so wie das gemeine Volk (ihr) eben in drei einzelnen Häppchen ansehen, daher erscheint dieser Review hier nach allen anderen, und ich sage euch, es ist besser so.

Denn wenn ich mir die Urteile der beiden Gegenpole der anglo-griechischen britischen Erwachsenen-Popkritik so durchlese (Alexis Petridis, The Guardian/Elton-John-Schattenbiograph, fand es gesundheitsgefährdend langweilig, Pete Paphides, Evening Standard/Autobiograph des großartigen Buchs „Broken Greek“, feierte eine Offenbarung), dann bin ich direkt dankbar, dass ich mir die ganzen acht Stunden nicht in einem Stück zumuten musste. So wie es von Regisseur Peter Jackson ja auch nicht gedacht gewesen war. Selbst für einen Beatles-Besessenen wie mich wäre das eine ziemlich extreme Prüfung gewesen.

Die Beatles spielen live

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In der unsterblichen Tradition des Kritikers, der zuerst einmal und am allerliebsten über sich selber schreibt, will ich bei der Gelegenheit bekennen, dass ich damals in den Neunzigern die „Anthology“-CDs boykottierte, weil ich meine Wahrnehmung des Kanons nicht durch endlos viele alternative Takes verderben wollte. Der Konsum seither erschienener Boxsets, zum Beispiel des Weißen Albums und von „Let It Be“, gibt mir auch das Gefühl, dass ich mit dieser einsamen Entscheidung vermutlich recht hatte. Die in „Get Back“ ausführlich dargestellte Genese der Songs von letzterem, berüchtigt kontroversen, seither mehrfach überarbeiteten Schwanengesang, hatte für mich daher sicher mehr Überraschungen zu bieten als für fortgeschrittene Beatles-Antholog*innen. Aber dieser Film ist schließlich auch ganz was anderes, weil man der Band dabei zusehen kann.

Ich glaube ja nicht, dass man die Entstehungsgeschichte von „Get Back"/"Let It Be“ wirklich noch einmal durchkauen muss. Wer die nicht kennt, würde das hier vermutlich nicht lesen. Aber der Vollständigkeit halber in einem Absatz: Weltberühmte Band, die seit 1966 nach zwei ziemlich desaströsen letzten Tourneen (Rauswurf aus den Philippinen wegen Diktatorengattinsbeleidigung, unabsichtliche Entweihung des Kriegsgedenkens in Japan, Zoff in den USA nach Lennons „Beatles-populärer-als-Jesus“-Kontroverse) nicht mehr live gespielt hat, will unter der Leitung des pausenlos Zigarre paffenden Regisseurs Michael Lindsay-Hogg einen selbstproduzierten Film drehen, der den Weg zu einem großen, krönenden Live-Comeback dokumentieren soll. Stattdessen führt das ganze Unternehmen nur zu einem halbfertigen Album und einem kleinen, improvisierten Konzert am 29. Jänner 1969 auf dem Dach der Zentrale der Beatles-Firma Apple in der Londoner Savile Row.

Die Beatles spielen auf einem Dach

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Lindsay-Hoggs daraus resultierender Film „Let It Be“ wurde bei seinem Erscheinen 1970, also erst nach dem Ende der Band, von deren Ex-Mitgliedern wie der Kritik gleichermaßen brutal verrissen und war seitdem die längste Zeit vergriffen. Ich bin allerdings immerhin alt genug, mich gerade noch daran zu erinnern, jene erste Fassung desselben Materials irgendwann um den Tod John Lennons 1980 herum im Fernsehen gesehen zu haben.

Für meinen Teil (er schreibt schon wieder über sich selbst, es hört nie auf) fand ich die oft bejammerten schlechten Vibes dieser Ur-Version ja damals ziemlich faszinierend und sexy. Die Beatles hatten nicht nur die Blaupause für die perfekte Pop-Band und deren kreative Emanzipation, sondern auch für deren Verfall hergestellt und damit in meinem kleinen Kopf so wie in Millionen anderen kleinen Köpfen das Ideal dafür erschaffen, wie der Niedergang einer solchen Band auszusehen hat. Mit fetten Haaren und Bärten, Momenten der peinlichen Stille und viel Kreischen ins Mikro: „Don’t let me down!!!!“ „I think that EVERYBODY KNOWS, I’ve got a feeling, yeah.“

Insofern hegte ich ja gewisse Bedenken, Peter Jackson könnte mir nun in einem revisionistischen Gewaltakt diese ganze morbide Romantik versauen. Es wurde kolportiert, er sei nach Sichtung des gesamten, im Verlauf des Jänner 1969 in den Twickenham Film Studios und danach im improvisierten Kellerstudio und auf dem Dach des Apple-Hauses gedrehten Materials zur überraschenden Erkenntnis gelangt, die Beatles hätten in Wahrheit riesig Spaß bei der Arbeit gehabt. Das klang dann doch zu nett, um wahr zu sein. Aber ich hätte mich nicht zu sorgen brauchen.

Einer der Vorteile der Überlänge von „Get Back“ (ehrlich, Peter Jackson, niemand muss wirklich sehen, wie John und Paul einen ganzen Take von „Two of us“ durch zum Dauergrinsen gefletschte Zähne singen) ist nämlich, dass diese Doku Platz für mehr als nur eine These hat und zu einem differenzierten Gesamteindruck lädt: Ja, sie hatten offensichtlich großen Spaß und waren vereint durch eine unglaubliche musikalische und menschliche Chemie, aber man kann auch gut sehen, warum sie dennoch auseinanderdriften mussten.

Beatles beim Proben

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Ein paar der stärksten Szenen des neuen Films kreisen um genau diese mit vielen Mythen vorbelastete Sage:

Zunächst einmal die Besprechung zwischen Filmemachern, Produktionsteam, Paul McCartney und Ringo Starr eines Wintermorgens im bibberkalten Filmstudio am Tag nach einer gescheiterten bandinternen Krisensitzung infolge des spontanen Ausstiegs des sich ständig von Lennon-McCartney untergebuttert fühlenden George Harrison. Als deren einziges Ergebnis nun auch noch John Lennon kurzweilig untergetaucht ist. „And then there were two“, sagt McCartney, und nicht nur ihm steigen dabei die Tränen in die Augen.

Dieselbe Szene enthält auch seinen prophetischen, ironischen Kommentar, die Leute würden sich wohl noch in fünfzig Jahren erzählen, die Beatles hätten sich aufgelöst, „weil Yoko auf einem Verstärker saß“.

Dem derzeitigen Beatles-Forschungs-Konsens zufolge trägt diese Sequenz den Mythos, die Präsenz von Yoko Ono habe die Beatles gespalten (egal jetzt, wessen Seite man in dieser Erzählung einnimmt), endgültig zu Grabe. Aber ich bin mir da ja nicht ganz so sicher. Dinge, die man benennt, um sie zu verlachen, sind immer noch Dinge, die man benennt. Also Dinge, die man auch irgendwie so im Kopf herumgetragen haben muss.

Jetzt so gut wie noch nie zuvor dokumentierte Tatsache bleibt jedenfalls, dass die Beziehung zwischen den McCartneys (Paul und seiner Damals-noch-Freundin Linda Eastman) und dem Pärchen Ono-Lennon um vieles herzlicher war, als in der gängigen Geschichtsschreibung behauptet. Den einzigen Moment aufkommender Säuerlichkeit zwischen Ono und der Band liefert interessanterweise eine Szene in Teil drei, als Heather, Lindas kleine Tochter aus erster Ehe, übermütig durchs Studio tollt und dabei über Johns Mikro zum Sound der Band eines von Yokos langen Schrei-Soli imitiert. Was jene offensichtlich gar nicht so niedlich findet.

Für die in Sachen Band-Politik noch essentiellere Szene in Teil zwei gibt es nicht einmal Bildmaterial. Zum Mitschnitt einer privaten Besprechung zwischen Lennon und McCartney in der Studiokantine in Twickenham zeigt Jackson nur einen Blumentopf wie den, in welchem die Film-Crew heimlich ihr Mikrophon versteckt haben soll. (Ging das 1969 denn wirklich? Wären John und Paul nicht die unter dem Tisch verlaufenden Kabel aufgefallen?)

Die sensible Art, in der die beiden Alpha-Männchen die Veränderung des Machtgefüges untereinander und ihre Fehler im Umgang mit dem jüngeren, in seiner Songschreiberei auf sich allein gestellten George diskutieren, ist ein berührender Beleg dafür, dass – eigentlich logisch – nur überdurchschnittlich emotional intelligente Menschen derart emotional bewegende Songs schreiben konnten.

An dieser Stelle darf ich weiter offenlegen (ich, ich, ich, yeah yeah yeah!!!), bisher tendenziell eher der McCartney-Sympathisant gewesen zu sein. Nicht der Platz hier, die jüngere Neubewertung der beiden Pole John und Paul – insbesondere nach Barry Miles’ alles veränderndem, die Geschichte des Londoner „Underground“ der Spätsechziger revidierenden Macca-Interview-Buch „Many Years From Now“ (1997) – noch einmal durchzukauen. Und es wär auch gar nicht nötig, denn unerwarteterweise hat „Get Back“ mich nun wieder Lennon mehr als seit Langem lieben gelehrt. Ich kannte ihn zynisch und pathetisch/prophetisch, aber ich kannte ihn nicht so warmherzig und tatsächlich witzig, wie er in „Get Back“ rüberkommt. Zum Beispiel in seiner direkt in die Kamera gesprochenen Erklärung, er könne aus eigener Erfahrung bestätigen, dass Masturbation nicht blind mache, „aber sehr, sehr kurzsichtig“.

Ziemlich heroisch übrigens auch, wie Lennon den am Set vorbeischauenden (Selbst-)Darsteller Peter Sellers (der kurz darauf mit Ringo Starr den teils katastrophalen, teils grandiosen Film „Magic Christian“ drehen sollte) eiskalt abserviert. Nordenglischer Sarkasmus versus südlich selbstverliebte Exzentrik, der Gegensatz der Generationen und Klassen spielt dabei unüberhörbar mit hinein. Ein paar improvisierte Minuten der social awkwardness, über die man ein ganzes Buch zum Thema britische Klassengesellschaft schreiben könnte.

Die Beatles spielen auf einem Dach

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Wie überhaupt der sich beiläufig eröffnende politische Blickwinkel hier als einer der großen Gewinne aus Peter Jacksons offensichtlicher Unfähigkeit zu editieren (hallo, Hobbit!) hervorgeht: Mir war nie ganz geheuer gewesen, wie der Song „Get Back“ aus einer satirischen Auseinandersetzung mit der wachsenden Fremdenfeindlichkeit im zunehmend multikulturellen Großbritannien der Spätsechziger gewachsen war. Im Kontext betrachtet ist aber eindeutig, wie die zwischen den unter diesem Aspekt so sinistren Refrain „Geht zurück dorthin, wo ihr herkommt“ eingestreuten Strophen über Pakistanis in England und Puerto-Ricaner*innen in den USA aus der Erstversion des Songtexts zu verstehen waren.

„Get Back“ zeigt nun die Band, wie sie über die rassistischen Reden des konservativen Parlamentariers Enoch Powell herzieht und das ein halbes Jahrhundert später wieder aufgebrochene, nie verheilte Trauma des verlorenen Empire spontan in einem spöttischen Blues über den Commonwealth verarbeitet.

Zwischendurch erklärt Lennon dem Rest der Band die „I have a dream“-Rede des im Jahr zuvor ermordeten Martin Luther King Jr.. Die zeitgenössische Relevanz des Themas wird im dritten Teil so richtig offensichtlich, als John und Co. gemeinsam mit dem sich vor Begeisterung in die Hände klatschenden, afrikanisch-amerikanischen Keyboarder Billy Preston Kings Worte über jenes Riff singen, das sich später auf „Abbey Road“ zum epischen „I Want You (She’s So Heavy)“ auswachsen sollte.

Womit wir beim für diese Sessions so lebensrettenden fünften Beatle als einer der heimlichen Hauptfiguren dieser Doku – neben dem nicht nur kleidungstechnisch messerscharfen Tontechniker Glyn Johns und dem rundum liebenswerten Über-Roadie Mal Evans – angelangt wären: Billy Preston hatte die damals noch völlig unbekannten Beatles 1962 in Hamburg kennengelernt, als er dort als Sechzehnjähriger in der Band von Little Richard die Orgel spielte. Bei den „Get Back“-Sessions sieben Jahre später stieg er auf Einladung George Harrisons ein und rettete sie damit nicht nur durch seine großartige Fingerarbeit am Fender Rhodes und der Hammondorgel, sondern auch gruppendynamisch durch seine Anwesenheit vor dem Scheitern.

Die Szene im Apple-Studio, in der die von ihrem neuen, volleren Sound euphorisierten Beatles ernsthaft diskutieren, Preston als vollwertiges Mitglied in die Band aufzunehmen, ist einer der großen „Was wäre gewesen, wenn...“-Momente des Films.

Besonders vielsagend erscheint aus der Post-Black-Lives-Matter-Perspektive des Jahres 2021 aber auch die Szene am Ende des Dachkonzerts, als die Bobbies von der Metropolitan Police hinter der Band Aufstellung nehmen, um den Radau zu beenden, der für mehr als dreißig Lärmbeschwerden (aber auch ein spontan versammeltes Publikum von mehreren Hunderten auf dem Gehsteig darunter und auf den umliegenden Dächern) gesorgt hat.

Selbst wenn die Staatsgewalt angetreten ist, auf Seiten der pikierten Geschäftsleute des West End einzuschreiten, denkt niemand daran, Hand an die mächtigen Beatles zu legen, denen schließlich erst vier Jahre zuvor die Queen fette Verdienstorden umgehängt hatte. Doch bei den Einstellungen, die den unerschrocken weiterspielenden Billy Preston und die Polizisten hinter ihm zeigen, fielen mir unweigerlich die Bilder der Straßenschlachten der sogenannten Rassenunruhen im London jener Ära ein. Und ich malte mir aus, wie die Sache wohl ausgegangen wäre, hätte Preston an jenem Tag nicht unter dem Schutzschirm der Beatles seine bluesigen Freiluft-Licks gespielt.

Neben der reinen Dauerfreude an der schieren Musikalität der Beatles (wieso erwähne ich das eigentlich erst jetzt?) waren es diese zeitgeschichtlichen Aspekte, die mich beim ersten Durchgang von „Get Back“ wohl am meisten mitrissen.

Ob und wann ich mir das noch einmal reinziehen werde, wage ich selbst nicht zu sagen. Aber wenn ich mich entscheiden muss, gehöre ich nach heutigem Stand eindeutig zum Team Paphides. They didn’t let me down.

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