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„Francis“ ist eine bitterschöne Abrechnung mit dem neoliberalen Aufstiegsversprechen

In „Francis“ begibt sich der kanadische Autor David Chariandy zurück in seinen Heimatbezirk Scarborough. Sein zweiter Roman ist eine aufrüttelnde Suche nach scheinbar verlorenen Chancen und der Hoffnung auf ein echtes Ankommen.

Von Melissa Erhardt

Kanada in den 1980er Jahren. In Scarborough, am Stadtrand von Toronto, wachsen in einer Reihenhaussiedlung umgeben von Straßenlärm und klaffender Armut zwei Brüder auf. Der Vater ist längst weg, die Mutter, Ruth, hält die Familie mit einer Vielzahl an Jobs gerade mal so über Wasser. An guten Tagen kocht sie Köstlichkeiten aus Trinidad auf, dem west-indischen Inselstaat, aus dem sie vor Jahren nach Kanada immigriert war. An schlechten Tagen muss es auch ein Glas Essiggurken aus dem Kühlschrank tun.

David Chariandy

David Chariandy

David Chariandy

Die beiden Brüder, Francis und Michael, verbringen ihre Freizeit in den Wohnanlagen des Parks. Francis, der ältere der beiden, hängt mit seinen Freunden in einem Barbershop, dem Desirea’s ab. Die Freunde legen Platten auf – von Aretha Franklin über Harry Belafonte bis hin zu Bob Marley, von Soul über Rocksteady zu kongolesischer Rumba, von Philadelphia bis Port of Spain– und träumen vom großen Durchbruch in der aufstrebenden Hip-Hop-Welt. Die reale Welt blenden sie im Desirea’s aus:

„Unsere Eltern kamen aus Trinidad und Jamaika und Barbados, aus Sri Lanka und Polen, aus Somalia und Vietnam. Sie hatten Scheißjobs, strampelten sich ab, um die Miete zu zahlen, waren chronisch erschöpft und propagierten oft ebenso chronisch erschöpfte Vorstellungen von Identität und Ehrbarkeit. Aber im Desirea’s waren andere Selbstbilder und Verwandtschaften möglich. Man fand eine neue Sprache, verstand sich mit Gesten, blieb hautnah an den Bedeutungen“

Michael, der jüngere der beiden, tanzt währenddessen zu Lionel Richies „All Night Long“ und weiß nicht ganz wohin mit sich, bis er seinen Rückzugsort in der Bibliothek findet - zusammen mit dem Nachbarsmädchen Aisha. Immer wieder geraten die beiden zufällig in Schießereien, machen unliebsame Begegnungen mit der Polizei:

„Es war nicht das erste Mal, dass die Polizei uns aufgriff. Das war schon fast Routine. Wir mussten nur brav mitspielen, dann kamen wir am Ende wieder frei, nicht unbedingt mit all unserer Würde. Aber zumindest mit heiler Haut“.

Du kannst es schaffen, wenn du nur willst

In seinem zweiten Roman „Francis“ bringt uns der kanadische Autor David Chariandy dieses Leben von Ruth, Francis und Michael näher, das später noch einen dramatischen Verlauf nehmen wird. Es ist eine Geschichte, die zumindest den Rahmen aus Chariandys eigenem Leben als Vorlage hernimmt. Auch er ist als Sohn karibischer Einwanderer aus der Arbeiterklasse in Scarborough aufgewachsen. Er weiß, wie es sich anfühlt, einem bestimmten Blick der Gesellschaft ausgesetzt zu sein: Ein beobachtender Blick, gegen den man machtlos zu sein scheint.

Bei den zwei Brüdern taucht schon früh die bittere Einsicht auf, dass die von ihren Eltern erhoffte und von der Gesellschaft ständig verbreitete Aussicht auf Erfolg nur für wenige in Erfüllung gehen wird. So erzählt Michael, aus dessen Sicht das Buch geschrieben ist:

„Heute weiß ich, dass man so etwas mit 14 spürt. Man nimmt nicht nur die Bedrohung wahr, die von jungen Männern mit Waffen ausgeht, von „Gangs“ und „Gewaltverbrechern“, sondern auch diese andere Bedrohung, die schleichend daherkommt und ebenfalls sehr alt ist. Eine Mutter, die einem eine Predigt hält über das Ankommen und die große Chance, und dabei stinkt ihr Atem nach dem Zahn, den sie mangels Zeit und Geld leider gerade nicht behandeln lassen kann. Und je erwachsener Francis wurde, desto unzufriedener wurde er mit der Welt und dem ihm zugedachten Platz“

Der mysteriöse Ort namens Heimat

David Chariandy behandelt in „Francis“ aber nicht nur die Auswirkungen eines neoliberalen Systems, das die ärmsten im Stich lässt, während es in Form des gaunerischen Supermarkt-Chefs und späteren Vorgesetzten von Michael in die Welt hinausposaunt: „Du kannst alles schaffen, wenn du nur willst.“

Buchcover "Francis"

Claassen Verlag

„Francis“ ist am 18. Oktober im Claassen Verlag erschienen. Thomas Brovot hat den Roman vom Englischen ins Deutsche übersetzt.

Mit kleinen, fast unscheinbaren Details führt er uns auch vor Augen, was es bedeuten kann, sein Land in der Hoffnung auf ein gutes Leben zu verlassen. Etwa an der Stelle, wo Michael das Schulheft seiner Mutter findet: „Im Heft selbst Wörter, wunderschön und wie gemalt, als stünde für das Mädchen, das sie geschrieben hat, alles auf dem Spiel. Neben jedem Wort ist ein rasches Häkchen, unten auf der Seite ein kurzer Vermerk. „Sehr gut“, steht da.“

Für Michael mag es ein simples Heft sein, für die Mutter ist es wahrscheinlich ein Andenken aus einer Zeit, wo sie noch träumen durfte – unverdorben von der bitteren Realität, die sie in Kanada erwarten würde. Gleichzeitig macht Chariandy deutlich, was der Begriff „Heimat“ für die Nachfahren von Eingewanderten bedeutet: Während den beiden Brüdern ihre eigentliche Heimat Kanada von Medien und Gesellschaft verwehrt bleibt, ist der Geburtsort ihrer Eltern ein mysteriöser Ort für die beiden, beladen mit Fantasievorstellungen, fernab ihrer eigenen wahrnehmbaren Realität:

„Trinidad war der Ort, wo Verwandte wohnten, denen wir nur kurz begegnet waren und die jetzt auf alten Schwarz-Weiß-Fotos fortlebten, geisterhafte Bilder, die unsere Art zu lächeln erklären sollten, unsere Augen, unsere Haare, unser Knochengerüst“.

Dass diese Themen dabei so ungezwungen und fast schon beiläufig vorkommen, liegt aber nicht nur an Chariandy, sondern auch an der Arbeit von Thomas Brovot, der das Werk mit einer unglaublichen Präzision vom Englischen ins Deutsche übersetzt hat.

Das Leben wertschätzen

Trotz der schmerzvollen Ehrlichkeit, die einem das ein oder andere Mal eine Träne übers Gesicht laufen lässt, trotz der Thematisierung von Trauer, Wut und Ungerechtigkeit vergisst David Chariandy in „Francis“ dennoch nicht auf das Schöne des Alltags: Die Nachbar*innen, die sich an schlechten Tagen gegenseitig aushelfen und ungefragt Mahlzeiten auf dem Treppenabsatz hinterlassen – in Einweggeschirr wohlgemerkt, um niemandes Stolz zu verletzen, die zusammen alte Nina Simone Platten hören, ohne dabei viele Worte zu wechseln . Das Glück und die Freude, die Francis und Michael in der Musik und in anderen Personen finden. Zarte Berührungen, die die Welt bedeuten, Liebe, die hinter dicken Fassaden schlummert und sich erst auf den zweiten oder dritten Blick bemerkbar macht. All das macht „Francis“ zwar trotzdem zu keiner locker-leichten Lektüre für Zwischendurch, aber dafür zu einem Roman, der das Leben in all seinen Facetten betrachtet und wertschätzt.

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