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Benedetta & Annette

Stadtkino Verleih / Polyfilm

„Benedetta“ und „Annette“: Schlichte Titel für subversive Filme

Zwei Frauennamen, zwei filmische Provokationen. Die Regierebellen Paul Verhoeven und Leos Carax erzählen in ihren kontroversen neuen Werken von weiblichem Begehren und toxischer Männlichkeit. Gesungen wird dabei in einem Fall auch noch.

Von Christian Fuchs

Intime Beziehungen und erotische Affairen zwischen Frauen gehören zu den Lieblingsthemen des aktuellen Arthouse-Kinos. Filme wie „Ammonite“, „Portrait of a Lady on Fire“ oder „The World To Come“ bemühen sich um weibliche Blickwinkel, möglichst frei von Sexismus. Mit „Benedetta“ meldet sich jetzt der male gaze zurück.

Wenig Regisseure stehen so für den maskulinen Blick wie der ewige Provokateur Paul Verhoeven, dessen Karriere von kleineren und großen Skandalen durchzogen ist. Mit seinen 82 Jahren ist der Niederländer noch dazu ein sehr alter weißer Mann.

Aber bevor dass hier wie ein Bashing von Verhoeven klingt: Der Regisseur gehört natürlich zu den großen subversiven Stimmen des Genrekinos. In seiner Hollywood-Phase drehte er Blockbuster wie „Robocop“ oder „Starship Troopers“ voller finsterer sarkastischer Polit-Untertöne. Mit „Basic Instinct“ begab er sich mitten im Mainstream bewusst weit unter die Gürtellinie. Und dort spielt auch sein neuer Film „Benedetta“.

"Benedetta" Filmstills

Polyfilm

Arthouse-Ernsthaftigkeit und Sexploitation

Basierend auf der Sachbuchvorlage „Immodest Acts – The life of a lesbian nun in Renaissance Italy“ von Judith Cora Brown nimmt sich Paul Verhoevens schwülstiges Klosterdrama einige historische Freiheiten.

Der Film erzählt die Geschichte zweier Nonnen, die im 17. Jahrhundert wegen angeblich unzüchtiger Annäherungen vor Gericht gestellt werden. Dabei gilt eine der beiden Frauen, Schwester Benedetta, in dem Ort in der Toskana als Heilsbringerin, als Retterin vor der Pest, als Auserwählte, die direkt mit Jesus kommuniziert.

Die Story von Benedetta (Virginie Efira) und Bartolomäa (Daphne Patakia) und ihrer Liebesbeziehungen hinter Klostermauern wäre in den wüsten 70er Jahren wohl als Nunsploitation-Movie verfilmt worden. Billige Sexstreifen im religiösen Milieu, voller Nacktheit und Gewalt, waren seinerzeit Hits in Bahnhofs- und Provinzkinos. Ganz so sleazy ist Paul Verhoevens Nonnendrama nicht. Aber wenn sich die Schwestern mit einem Holzdildo vergnügen, der aus einer Heiligenfigur geschnitzt ist, lässt das Softsex-Kino früherer Dekaden grüßen.

"Benedetta" Filmstills

Polyfilm

Blasphemische Momente gibt es einige in „Benedetta“ und der Frauenhass, der in der Inquisitions-Ära in der Kirche regiert, rechtfertigt jeden einzelnen. Mehr noch, die Freude an Verhoevens schamlosen Attacken gegen ein grauenhaft korruptes System trägt einen durch die problematischen Passagen des Films. Nicht nur der glatte Telenovela-Look und die schlechten Computereffekte irritieren nämlich.

„Benedetta“ hat, wahrscheinlich bewusst, keine genaue Richtung. Ein bisschen Arthouse-Ernsthaftigkeit, ein wenig Sexploitation, eine Auseinandersetzung mit dem Glauben, eine hämische Satire. Was von dem Film zurückbleibt, ist neben der grandiosen Charlotte Rampling als Oberin vor allem die faszinierende Hauptdarstellerin Virginie Efira.

"Benedetta" Filmstills

Polyfilm

Bruch mit Musical-Konventionen

Der Sprung ins Komerzkino, den Paul Verhoeven in den 80er Jahren wagte, hat Leos Carax nie interessiert. Der Pariser drehte zwar unglaublich aufwändige Filme wie „Les Amants du Pont-Neuf“, richtete sich aber stets an ein cinephil-feinsinniges Publikum.

Zehn Jahre sind seit seiner surrealen Leinwandprovokation „Holy Motors“ vergangen, nun läuft Carax’ neues Werk endlich in den wieder eröffneten Kinos an. „Annette“ ist ein Musical der ganz anderen Art geworden, geschrieben vom legendären amerikanischen Pop-Duo Sparks.

Singen in Filmen, darüber lässt sich klarerweise streiten. Auf der einen Seite stehen glühende Musicalfans, auf der anderen Seite die zahlreichen Gegnerinnen und Gegner des Genres. „Annette“ ist ein Film, der sich dieser Diskussion fast entzieht - und dann wieder doch nicht. Fest steht: Es wird fast ununterbrochen gesungen im neuen Streifen von Leos Carax, auch in den alltäglichsten Momenten.

"Annette" Filmstill

Stadtkino Verleih

Gleichzeitig bricht „Annette“ mit sämtlichen Musical-Konventionen. Da ist einmal der Inhalt. Wir folgen einem prominenten Liebespaar vom romantischen Beginn bis in den totalen Abgrund. Während die Operndiva Anne von der Hochkultur gefeiert wird, verdient ihr Freund Henry sein Geld als politisch extrem unkorrekter Comedian. Die Gegensätze ziehen sich scheinbar an.

„Annette“ ist eine Pop-Oper, bei der auch beim verschwitzten Sex gesungen wird, Marion Cotillard und Adam Driver schreiben wohl Filmgeschichte mit dieser Szene. Aber die Schlafzimmer-Idylle währt nicht lang. Der Film verwandelt sich in eine Reflexion über toxische Männlichkeit und Gewalt, in einen sehr düsteren Tanz am Abgrund. Gesungen wird trotzdem immer.

"Annette" Filmstill

Stadtkino Verleih

Cotillard und Driver leisten vokal und emotional Großartiges, der Fernsehschauspieler Simon Helberg („The Big Bang Theory“) brilliert in einer größeren Nebenrolle.

Aber auch hinter der Kamera wimmelt es vor Talenten. Das ikonische Duo Ron und Russell Mael hat zwar keine eingängigen Hits, aber ausgesucht bizarre Lieder geschrieben. Regiegott Leos Carax besticht erneut mit einer unvergleichlichen Form, perfekter Ausleuchtung, berauschenden Bildern. Der wirkliche Star ist aber Baby Annette, die Titelfigur. Ja, auch Säuglinge singen in diesem Film.

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