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Carmen Maria Machado

Art Streiber / AUGUST

Wenn der Safe Space zu einem Alptraum wird: „Das Archiv der Träume“ von Carmen Maria Machado

Kann man über häusliche Gewalt in lesbischen Beziehungen schreiben? Und wenn ja, wie? Eine überaus interessante Antwort auf diese Frage liefert uns die US-amerikanische Autorin Carmen Maria Machado in ihren Memoiren „Das Archiv der Träume“.

Von Melissa Erhardt

Im Jahr 1985, noch bevor das US-amerikanische Fernsehpublikum den ersten lesbischen Kuss auf ihren Bildschirmen sehen wird, erstürmt der Song „Voices Carry“ die internationalen Charts. Die damals 25-jährige Leadsängerin Aimee Mann der Bostoner New Wave Band ‘Til Tuesday singt in dem düster-melancholischen Track über eine toxische Gewaltbeziehung, die sie wohl selbst durchleben musste:

„I’m in the dark, I’d like to read his mind / But I’m frightened of the things I might find“

Im Video zu dem Song können wir das Auf und Ab der Beziehung nachverfolgen, die Unsicherheit Aimee Manns und den willkürlichen, wenn auch im Video etwas schräg dargestellten Machtmissbrauch des Partners. „Scheiß Patriarchat“, möchte man rufen, um irgendeinen Sinn aus der Situation zu machen. „This song helped me get away from an abusive relationship“, kommentieren User*innen auf YouTube. Was damals aber niemand weiß: Im Songtext von „Voices Carry“ wurden die Pronomen ausgetauscht. Eigentlich handelt der Song nicht von einem toxischen Partner, sondern von einer toxischen Partnerin. Die Geschichte einer von Missbrauch geprägten Partnerschaft zwischen zwei Frauen, einer lesbischen Partnerschaft, sei damals allerdings nicht „mainstreamtauglich“ gewesen – und wurde kurzerhand ausgelöscht.

Klett-Cotta

Art Streiber / AUGUST

„Das Archiv der Träume“ ist in der Übersetzung von Anna-Nina Kroll im Klett-Cotta Verlag erschienen. Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel „In the Dream House“.

Die Erfahrung von Aimee Mann ist nur eine von vielen, mit denen Carmen Maria Machado ihre eigene Geschichte in ihren Memoiren „Das Archiv der Träume“ untermauert, um zu zeigen: Es gibt sie, die häusliche Gewalt in lesbischen Beziehungen. Und Machado hat sie am eigenen Leib erlebt.

„Das letzte, das queere Frauen brauchen, ist schlechte PR“

Schon mit ihrem ersten Kurzgeschichtenband „Ihr Körper und andere Teilhaber“ („Her Body and Other Parts“) hat es Carmen Maria Machado 2017 ins Finale der US National Book Awards geschafft. 2019 folgte ihr zweites Buch „In the Dream House“, das seit Oktober nun endlich in seiner deutschen Version, als „Das Archiv der Träume“, übersetzt von Anna-Nina Kroll, verfügbar ist. In der autobiografischen Erzählung rekapituliert Machado, Enkeltochter eines Kubaners und einer Österreicherin, ihre eigene Machtlosigkeit in etwas, was wir gemeinhin als „toxische Beziehung“ bezeichnen. Weil in letzter Zeit aber irgendwie alles und jede*r „toxisch“ zu sein scheint (zumindest bekomme ich diesen Eindruck, wenn ich durch meinen Insta-Feed scrolle), klingt dieser Begriff fast zu harmlos, um das zu beschreiben, was Machado durchmacht. „Abusive Relationship“, eine von Missbrauch geprägte Beziehung, scheint da irgendwie passender.

Diesen Missbrauch merkt sie selbst immer wieder: Etwa, wenn ihre Partnerin ausrastet, weil sie auf der Arbeit mit einer anderen Frau gesprochen hat. Oder wenn sie sie am Arm packt und dabei immer fester zudrückt, so lange, bis es wehtut. Trotzdem konnte Machado den Missbrauch lange nicht einordnen, wie sie im kanadischen Frühstücksfernsehen erklärt: „Als ich mich langsam von dieser Beziehung erholte, machte ich mich auf die Suche nach Erzählungen, die etwas von dem widerspiegeln, was ich erlebt hatte. Aber ich konnte keine finden. Und das kam mir seltsam vor. Ich meine, queere Menschen gibt es schon so lange - wie kann es also sein, dass diese Geschichten noch nicht zu Papier gebracht wurden?“

Der Grund dafür ist einfach - und Machado kennt ihn genau. An einer Stelle im Buch, als sie nach einem ausgearteten Streit mit ihrer Partnerin nach Hause fliegt und einer Flughafenangestellten mental ihr Herz ausschüttet, fasst sie diesen inneren Zwist sehr pointiert zusammen:

„(…) Wenn deine Familie davon Wind bekäme, wäre wohl jedes ihrer Vorurteile über Lesben bestätigt, und du wünschtest, sie wäre ein Mann, denn dann könnte das Ganze wenigstens Vorurteile über Männer bestätigen, und das könne sie wahrscheinlich nicht nachvollziehen, aber das Letzte, was queere Frauen brauchen, ist schlechte PR, und dann schämst du dich wieder, weil diese Airline-Frau ja vielleicht selbst queer ist und es sehr wohl nachvollziehen könnte.“

Vom Traumhaus zum Spukhaus

Um die Geschichte trotz ihrer Komplexität dennoch erzählen zu können, entschließt sich Machado schließlich für die Fragmentierung. Sie zerstückelt ihre Geschichte in viele kleine Teile, experimentiert mit literarischen Gattungen und Genres und gestaltet auch mal ein Kapitel als interaktives Spiel mit uns Leser*innen, wo wir selbst entscheiden müssen, wie es weitergeht (Spoiler: Viel Entscheidungsmacht haben wir leider nicht). Zu dieser Leichtigkeit habe ihr ihre Herausgeberin geraten, wie Machado in einem Interview verrät, ihr Buch würde ansonsten Gefahr laufen, „unlesbar“ zu werden.

Ihre trotz allem unterschwellig humorvolle Art, das Spiel mit dem Text, das Auflockern von harten, schwer verdaubaren Zeilen durch leichtere: All das macht es tatsächlich ertragbar, mitanzusehen, wie sich das Haus in Bloomingdale, Indiana immer mehr von der gelebten lesbischen Utopie eines gemeinsamen Safe Spaces voller Zuneigung und sexueller Begierde zu einem Alptraum entwickelt, einem von panischer Angst erfüllten Zustand, aus dem ein Entkommen unmöglich scheint:

„In den Gemäuern des Traumhauses verbringst du sehr viel Zeit mit Zittern, mit der zwanghaften Ortung ihres Körpers im Verhältnis zu deinem, mit unruhigem Schlaf, mit dem Horchen auf ihre Schritte, auf die Verachtung, die sich in ihre Stimme schleicht, mit leerem, fassungslosen Starren auf Dinge, die du nie im Leben zu sehen gedacht hättest“.

Das Schweigen der Archive

Zu der Zerstückelung des Buches gehört auch, dass Machado ihre eigenen Erfahrungen mit denen anderer (queerer) Frauen stützt: Das sind fiktive Charaktere wie Ingrid Bergman aus „Das Haus der Lady Alquist“, die von ihrem Ehemann gegaslightet wird, der also ihre psychische Gesundheit untergräbt, indem er ihre Wahrnehmungen in Frage stellt oder gar abspricht. Das sind aber auch reale Personen, wie die anfangs erwähnte Aimee Mann oder auch Debra Reid von den Framingham Eight, einer Gruppe von acht Frauen, die wegen Mordes an ihren gewalttätigen Partnern im Gefängnis saßen. Als einzige Lesbe war Reid die einzige der acht, die keine reduzierte oder umgewandelte Strafe erhielt und in einer späteren oscarprämierten Doku über die Framingham Eight nicht einmal vorkam. Die Jury sei damals, im Jahr 1992, der Ansicht gewesen, „sie und ihre Freundin hätten eine ‚wechselseitig gewalttätige Beziehung geführt‘ – eine verbreitete Fehlannahme bei häuslicher Gewalt unter queeren Personen – und das, obwohl davon während der Anhörung nie die Rede gewesen war“, wie Machado im Buch erklärt.

Das ist eben die Archivarbeit, auf die Carmen Maria Machado schon im Titel anspielt: Es ist ihr Versuch, über Dinge zu sprechen, für die es bislang keine oder nur unzureichende Worte gibt. Und auch wenn sie, wie sie im Nachwort noch einmal hervorhebt, keinen Anspruch darauf hegt, einen vollständigen Überblick über den Forschungsstand zu häuslicher Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen zu geben, so schafft sie es doch, die Graustufen auf fesselnde Weise deutlicher zu machen. Damit erweitert sie das Archiv der queeren Community nicht nur um ein gutes Stück, sondern liefert im selben Atemzug eine ehrliche und packende Lektüre, die einen so schnell nicht mehr loslässt.

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