FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Filmstills aus "Nightmare Alley"

Disney

Das Monster Mensch: „Nightmare Alley“ ist Guillermo del Toros dunkelster Film

Bisher feierte der mexikanische Regisseur übernatürliche Außenseiter in stilvollen Genre-Variationen. In „Nightmare Alley“ führt er uns aber in höchst irdische Abgründe.

Von Christian Fuchs

Das erste Mal hörte ich Mitte der neunziger Jahre von dem Wort Geek, in einem abgedämmten Hotelzimmer in Wien. Mir gegenüber saß der amerikanische Künstler Joe Coleman und zwirbelte seinen Bart. Damals noch als Underground-Artist gehandelt, mutierte der New Yorker bald danach zu einer Kultfigur, dessen sündteure Werke sich höchstens Martin Scorsese oder Leonardo di Caprio leisten.

Joe Coleman, der sich mit verschrobenen Sonderlingen aller Art identifiziert, erzählte mir von einem kleinen FilmNoir-Streifen namens „Nightmare Alley“, den ich unbedingt sehen müsse. Der Film aus dem Jahr 1947 war eigentlich als Karriere-Vehikel für den Leinwand-Schönling Tyrone Power gedacht. Der „Zorro“-Darsteller sollte in dem düsteren Freakshow-Drama neue Qualitäten aufblitzen lassen. Aber „Nightmare Alley“ verstörte das Massenpublikum gänzlich und floppte brutal.

Kein Wunder, grinste mich Coleman an, bemüht sich der Film doch um ein fast schon realistisches Bild von Außenseiter*innen, Ausgestoßenen und Randfiguren. Dabei sticht im gezeigten Jahrmarkt-Milieu ein Wesen besonders unglücklich hervor. Geeks, das sind meist obdachlose Alkoholiker, die vor staunendem Publikum in einer Sandgrube herumkriechen. Als Höhepunkt in Sachen Selbsterniedrigung beißen sie dann lebenden Hühnern die Köpfe ab.

Ein Begriff und seine popkulturelle Wandlung

Die wahre Geschichte der geschundenen Hobos (und die dazugehörige Grausamkeit gegenüber Tieren) geisterte lange nach dem Interview in meinem Kopf herum. Colemans Geek-Story inspirierte sogar ein Album meiner damaligen Industrial-Rockband. Dann erlebte der Begriff aber eine fast schon bizarre popkulturelle Wandlung.

„Freaks & Geeks“ hieß eine Jugendserie Anfang der Nullerjahre, die von Highschool-Außenseiter*innen und schüchternen Strebern handelte. Computer-Geeks bevölkerten bald das Silicon Valley, die Comic-Geeks trafen sich auf einschlägigen Conventions.

Guillermo del Toro, ein Regisseur, der den Originalfilm schätzt und die dazugehörige Buchvorlage verehrt, führt uns jetzt noch einmal in die spärlich ausgeleuchtete „Nightmare Alley“ - und zurück zu den Anfängen eines ominösen Wortes. Gleich in der Anfangssequenz werden wir drastisch mit einem Geek konfrontiert, der in einem herumziehenden Karnevalszirkus als finstere Attraktion gilt. Stanton Carlisle, der Protagonist, traut seinen Augen nicht, als die blutigen Hühnerfedern in die Luft fliegen.

Filmstills aus "Nightmare Alley"

Disney

Ein schäbiger Antiheld in exzentrischer Welt

Bradley Cooper spielt den Herumtreiber mit mysteriöser Vergangenheit anfangs wortkarg und verschlossen. Aber als der einsame Drifter Stanton in der Sideshow Arbeit findet, irgendwann am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, erwacht er langsam zum Leben. Der Mann mit provinziellen Wurzeln hat Ambitionen, mit Hilfe alter geklauter Schausteller-Tricks will er endlich Geld und Erfolg erlangen.

In erwartungsgemäß berauschender Ausstattung und Ausleuchtung präsentiert uns Guillermo del Toro in der ersten Filmhälfte das pittoreske Karnevalsmilieu. Wir tauchen ein in eine exzentrische, harte und doch auch sehr menschliche Welt, die bisweilen sogar an verwandte Filme von Tim Burton denken lässt.

Gefühlstechnisch schwierig wird es für viele Zuschauer*innen wohl danach. Stanton Carlisle verwandelt sich zum eiskalten Betrüger, der mit geschickten Zaubertricks sein nunmehr reiches Großstadt-Publikum manipuliert. Antihelden gehören zwar längst zur Grundausstattung vieler Filme und Serien, aber wie Bradley Cooper seinen innerlich gebrochenen Charakter anlegt, mit einer gewissen Schäbigkeit, das taugt (bewusst) nicht zur Mythisierung.

Ein farbgetränkter Fiebertraum

Das man dem getriebenen Personal dieses Films trotzdem aufgeregt durch überlange zweieinhalb Stunden folgt, liegt auch an den tollen Schauspieler*innen. Bradley Cooper zitiert mimisch Stars aus der goldenen Hollywood-Ära, was den sozialen Abstieg seiner Figur noch schmerzhafter macht. Cate Blanchett brilliert als kühle Psychiaterin, die ihre eigenen Pläne mit Mr. Carlisle hat. Rooney Mara überzeugt als junge Zirkusfrau, die auf Abwege geführt wird. Bis in kleinere Nebenrollen, von Richard Jenkins bis Toni Collette, besticht die Besetzung.

„Nightmare Alley“ wird seinem Titel gerecht, bis zum bitteren Ende. Während die schwarzweiße Noir-Vorlage aus den 40ern Jahren von Budget-Restriktionen und strenger Zensur geplagt war, genießt Guillermo del Toro seine offensichtlichen Freiheiten.

Er transformiert die Geschichte vom langsamen Fall des Stanton Carlisle in einen farbgetränkten Fiebertraum. Der opulente Manierismus, der auch zu früheren Werke des Regisseurs gehörte, äußert sich in atemberaubenden Sets, einst unterdrückter Sex flackert auf, wenn Gewalt ausbricht, dann kurz, heftig und brutal.

Filmstills aus "Nightmare Alley"

Disney

Der offensichtlichste Bruch mit dem bisherigen Schaffen von Guillermo del Toro könnte allerdings engstirnige Genrefans irritieren. Übernatürliche Kreaturen und Fantasy-Horror-Elemente fehlen erstmals gänzlich in einem Film des Mexikaners. Diesmal sind es tatsächlich die Menschen, die monströse Facetten entwickeln, das macht „Nighmare Alley“ zum dunkelsten Film del Toros.

Dabei ist die politische Dimension, die man so deutlich in Vorgängerwerken wie „The Shape Of Water“ oder „Pan’s Labyrinth“ sieht, besonders speziell. Denn der individuelle Aufstieg und Downfall von Stanton Carlisle steht auch für eine Ära, in der Scharlatane, Quacksalber und Wunderdoktoren regieren. Dass sich die Gegenwart der Homöopathie-Gurus, Impfverweigerer und Extrem-Esoteriker, der schamlosen Trickster und Hustler in der Politik, ähnlich anfühlt wie in „Nightmare Alley“, all das macht diesen Film noch dringlicher.

mehr Film:

Aktuell: