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A cleaner wipes the door at Number 10 Downing Street in London on February 7

APA/AFP/Tolga Akmen

ROBERT ROTIFER

Und wie bestellt kommt der Mob daher

Im Vereinigten Königreich auch schon normal: Ein Premierminister hetzt dem Chef der Opposition mutwillig den Mob der Verschwörungstheoretiker*innen auf den Hals.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Fast hätte ich geschrieben: Es ist wie eine Episode von „Black Mirror“. Wahr ist aber, dass ich schon seit Jahren nicht „Black Mirror“ gesehen habe, falls das noch irgendwo läuft. Vor allem, weil „Black Mirror“ dieser Tage einfach too close to the bone, zu sehr besser gefilmte Alltagsdoku statt Dystopie ist, um noch als Unterhaltung durchzugehen.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Jedenfalls nehme ich an, Adam Curtis saß in gezückter Daumen-Zeigefinger-Stellung vor seinem VHS-Recorder, als gestern Abend in den Nachrichten die verwackelten Bilder des von der Polizei vor einem wütenden Mob in Sicherheit gebrachten Oppositionsführers Keir Starmer liefen.

Die Vorgeschichte, falls ihr sie nicht kennt: Vergangene Woche fand eine jener Unterhaussitzungen statt, die uns vom Lobby-Journalismus in Westminster routinemäßig als Kampf des Premierministers um sein politisches Überleben verkauft werden. Beneidenswert begeisterbar, wer da noch mitfiebert, aber wir wissen ja, es kommen noch zwei ganze Boxsets von dem Zeug nach, überleben wird er also wohl. Spannend ist ja immer nur die Frage, wen er diesmal mit in die jeweils neu aufgetanen Abgründe zieht.

Diesmal war der Oppositionsführer, Labour-Chef Keir Starmer an der Reihe. Es brauchte nur eine kleine Randbemerkung, die im Trubel der Schlammschlacht nicht mehr als ein kurzes, kollektives Luftanhalten erntete. Der angegriffene Buffo-Churchill wetterte in seiner scheinbar verwirrten Art, Starmer habe in seinem früheren Amt als Director of Public Prosecutions (so eine Art Chef-Staatsanwalt, Starmer hielt diese Position von 2008 bis 2013 inne) „seine Zeit dazu genützt, Journalist*innen zu verfolgen und zu verabsäumen, Jimmy Savile zu verfolgen“.

Die verkürzte Ausdrucksweise gehört zur Natur solcher Attacken, ich will sie hier kurz dekodieren: Der Vorwurf der vorgeblichen Verfolgung von Journalist*innen bezieht sich auf Starmers staatsanwaltschaftliches Auftreten 2011 im Rahmen einer Abhöraffäre, in die so gut wie die ganze britische Boulevard-Journaille verwickelt war. Zum Fall des posthum als massenhafter Kinderschänder entlarvten Top-of-the-Pops-Moderators Jimmy Savile wiederum hatte ich vor knapp zehn Jahren in einer Kolumne hier schon alles geschrieben, was zu sagen war.

Der Untergriff, Starmer die Schuld für versäumte Ermittlungen gegen den 2011 verstorbenen Savile zuzuschieben, hat null Berechtigung jenseits des Umstands, dass 2009 ein anderer Staatsanwalt Ermittlungen gegen Savile abgeschmettert hatte. Der Fall hatte nie Starmers Schreibtisch erreicht.

Anderen Institutionen wie der Polizei oder der BBC (siehe meine damalige Kolumne) wurde im Nachhinein nicht zu Unrecht vorgeworfen, beide Augen zugedrückt zu haben.

Doch über die Jahre begann in rechtsextremen Netzwerken eine an das Qanon-Narrativ „Pizzagate“ erinnernde Verschwörungstheorie zu kursieren, derzufolge Keir Starmer in seiner Funktion als DPP den pädophilen BBC-Star Savile (in Wahrheit übrigens ein lebenslanger Unterstützer der Konservativen) gedeckt habe.

Je weiter hergeholt die These, umso besser klingt sie in der paranoiden Welt der Konspirationstheorien. Trotzdem blieb der Anwurf gegen Starmer eher ein kurioses Nischenphänomen, ehe Johnson ihn letzten Montag mit seinem scheinbar improvisierten, kleinen Einwurf unter Ausnützung seines Privilegs der Immunität im Unterhaus ans Licht des Mainstream hievte. Dazu bedurfte es keiner ausführlichen Erklärungen, ganz im Gegenteil: Die bewusst diffus formulierte Nennung des Namens Jimmy Savile in Zusammenhang mit Starmer war die ideale Methode, das Vorstellungsvermögen der Öffentlichkeit wachzukitzeln.

Von da an lief alles wie ganz von allein: Ein Sturm der Entrüstung in den sozialen Medien, gefolgt von der Frage, worum es hier eigentlich geht, Erklärungen obiger Verschwörungstheorie und den unvermeidlichen Vermutungen, dass da vielleicht doch was dran sein könnte. Labour und Starmer standen vor einer heiklen Entscheidung zwischen Ignorieren und Protestieren, bis angesichts des wachsenden Online-Rummels nur mehr Zweiteres in Frage kam. Mit der vorhersehbaren Konsequenz, dass statt der prekären Position des skandalgeschüttelten Premiers nun plötzlich die Verteidigung des Ansehens von Keir Starmer im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte stand. Die von Johnson gestreute Saat war also aufgegangen.

Seither kam jedes Mal, wenn irgendwo ein Regierungsmitglied interviewt wurde, auch der Untergriff des Premiers zur Sprache. Schließlich wollte man ja wissen, wie das jeweilige Regierungsmitglied dazu und in weiterer Folge zur Zukunft des eigenen Regierungschefs steht.

Mit jedem dieser Interviews bohrte sich das Gerücht immer tiefer ins allgemeine Bewusst- und Unterbewusstsein, und nach und nach wurden auch die Rechtfertigungen von Johnsons Regierungskolleg*innen und anderen ihm treuen Tories immer dreister und detaillierter. Michael Gove und dann Johnson selbst konterten schamlos, Starmer habe doch selbst 2013 im Namen der Staatsanwaltschaft eine Entschuldigung für die Nichtverfolgung Saviles abgegeben und damit seine eigene Verantwortung eingestanden. Dass die Vereinigung der Opfer Jimmy Saviles sich gegen diese Instrumentalisierung ihres Traumas für politische Zwecke verwehrte, ging dabei schon völlig unter. In den rechten Foren freute man sich indessen über die von höchster Stelle verliehene Publicity.

Gestern Abend dann erreichte die Affäre ihre logische, nächste Stufe, als Keir Starmer, mit seinem Schattenaußenminister David Lammy auf dem Weg ins Unterhaus, von einer Menge ziemlich rabiater Protestierender aufgelauert wurde. Neben diversen Antivax-Parolen warfen sie ihm so Sachen wie „Verräter!“, „Fucking cunt!“, „Savile!“ und „Pädophilenbeschützer!“ an den Kopf und bedrängten ihn dabei so bedrohlich, dass die Polizei Starmer schließlich zu seinem Schutz mit Geleit in das nächste Polizeiauto verfrachtete.

In den zu Beginn jeder Nachrichtensendung wiederholten, eingangs erwähnten, verwackelten Bildern sah das dann so aus, als würde ein verschreckter Starmer abgeführt. Und in Pubs, wo auf den TV-Bildschirmen tagsüber oft Rolling-News-Kanäle ohne Ton laufen, wird das auch genau so angekommen sein.

Die Hintergrundgeschichte erhielt dadurch jedenfalls erneute Brisanz, man begann on- und offline zu diskutieren, ob Johnson selbst nun die Verantwortung für Starmers Gefährdung trage, und bald waren dazu allerhand Stellungnahmen von Regierung bis Opposition eingetrudelt. Per Twitter verurteilte der Premierminister selbst zwar auf Schärfste den Mob und bedankte sich bei der Polizei für den Einsatz, distanzierte sich allerdings natürlich nicht von seinen Aussagen, die jenen Mob inspiriert hatten.

Bis zu den Abendnachrichten von Channel 4 (eh noch die besten) hatte sich deren Westminster-Korrespondent bereits zu einer in ihrem puren Zynismus sehr realitätsnahen Analyse vorgearbeitet: An den Reaktionen verschiedener Konservativer könne man einiges ablesen. Wer nur den Mob verurteile, sei einstweilen loyal zu Johnson, wer die Motive des Mobs verurteile, wolle ihn dagegen schnell loswerden.

Das potenzielle Opfer, Ziel der Verschwörung seiner eigenen Leute, war nun also plötzlich wieder ER, der Narzisst, der am weitesten pisst. Sein verunglimpfter Kontrahent, der Labour-Chef, war als aktiver Teilnehmer des Konflikts dagegen bereits wieder abserviert, nicht mehr als ein weiterer Kollateralschaden in Boris Johnsons politischer Überlebenskünstler-Nummer.

Und weil euch das die ganze Zeit schon auf den Lippen liegt: Ja, der offensichtliche Vergleich mit dem vielzitierten Playbook des Donald Trump samt leidenschaftlichen Erklärungen, dass es für solche Taktiken keinen Platz in der britischen Politik geben dürfe, wurde von allen Dächern gepfiffen. Aber drinnen in den Häusern, beim blauen Licht der Bildschirme, wird gerade das auf einige kaum abschreckend gewirkt haben.

Das tatsächlich Schockierende an der ganzen Sache ist aber wohl der Gedanke, dass Johnson und seine Strateg*innen (eine seiner engsten Verbündeten, Munira Mirza, hat inzwischen unter Protest sein Team verlassen) die beschriebene Ereigniskette im Vorfeld genau so durchgespielt haben müssen. Die Entscheidung, das Thema Savile im Unterhaus als Waffe einzusetzen, war fraglos wohlüberlegt.

Inklusive der davon verursachten Gefährdung von Keir Starmers Sicherheit, mit der praktischen Nebenwirkung, dass der Labour-Chef bei öffentlichen Auftritten künftig durch einen Security-Kordon vom Wahlvolk getrennt sein wird.

Man verzeihe mir die undifferenzierte Sicht auf diesen Haufen dampfender Scheiße, aber er stinkt doch ziemlich grausig.

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