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Michelle O'Neill

APA/AFP/Paul Faith

ROBERT ROTIFER

Neue Ära in Nordirland?

Der Brexit ging nach hinten los bzw. die Saat der Spätneunziger geht auf: In Nordirland haben die katholischen Republikaner*innen zum ersten Mal die Wahl gewonnen. Die protestantischen Unionist*innen drohen nach ihrer Niederlage mit der politischen Blockade der Provinz. Alles wird entweder gefährlich oder gut.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Es ist kaum mehr zu ignorieren dieser Tage, man sieht es an TV-Serien wie „Derry Girls“ (eh sehr gut) und hört es in Trailern zur Bewerbung diverser nostalgischer Clip-Orgien: Das mangels älterer Ware in den Second-Hand-Läden eh längst grassierende Neunziger-Revival ist - zumindest hier im UK - nun endgültig und sehr aufdringlich im Mainstream angelangt.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Dabei mangelt es mir als Zeitzeuge beharrlich an Nostalgie für die Dekade meiner Zwanziger. Schöne Erinnerungen, jede Menge, aber ansonsten eigentlich nur die immer wiederkehrenden Vorhaltungen an sich selbst. Was man mit etwas mehr Anstrengung und weniger Faulheit und Anpassung nicht alles verhindern hätte können (man hätte eh nicht, aber hat man es auch genug probiert?).

Die Verklärung des späten 20. Jahrhunderts jedenfalls hing diese vergangene Woche wieder in der Luft wie damals in den Neunzigern der kalte Rauch der Vornacht, wenn man als Band bei Tageslicht zum Soundcheck in einem gerade aufgesperrten Lokal ankam.

Das britische politische Äquivalent zu diesem deprimierend gestrigen Geruch ist die latente, geisterhafte Präsenz des lebenden Schattens von Tony Blair, dessen sprechender Schädel aus von Furchen der Verbitterung gezeichneter Haut und darunter durchscheinendem, nacktem Knochen neuerdings durch die sozialen Medien spukte, um Wahlwerbung für die Labour Party zu machen. Eine Partei, in der er, dessen Dritter Weg damals geradewegs in den Irak-Krieg führte, sich dank ihres zentristischen Makeovers auf seine untoten Tage wieder so richtig zuhause fühlt.

Es gab bei uns nämlich – kein Vorwurf, falls es an euch vorbeigegangen sein sollte – am Donnerstag Lokalwahlen in weiten Teilen von England, in Schottland und Wales, sowie Wahlen zur Nationalversammlung von Nordirland.

Der Termin fiel auf die Woche genau zusammen mit dem 25. Jubiläum von Tony Blairs Erdrutschsieg am 1. Mai 1997, der großen Vorlage für die heutige Führung unter dem straff gescheitelten Parteichef Sir Keir Starmer.

Mein Problem an Labours Versuch der Herstellung historischer Analogien zwischen der Lage heute und der damaligen Beseitigung einer 18 Jahre dauernden Tory-Vorherrschaft durch Blairs New Labour ist nur, dass ich zu jener Zeit schon in diesem Land lebte (wenn auch noch relativ frisch). Und ich erinnere mich noch allzu genau an die Mischung aus Erleichterung und Skepsis, ganz sicher nicht Euphorie, die die Leute in meinem Umkreis am Morgen des 2. Mai 1997 empfanden.

Entgegen heutiger Behauptungen hielt niemand, die oder den ich kannte, allzu große Stücke auf Blair. Die größten Optimist*innen waren jene, die meinten, sein autoritäres Law-and-order-Gewäsch („Tough on crime, tough on the causes of crime“) wäre bloß ein schlauer Wahlkampftrick gewesen.

Was allerdings sehr wohl noch existierte, war eine von der alten Linken, wenn auch nur diffus überlieferte Überzeugung, dass die Menschheit sich per Bewegungsgesetz auf einem letztlich unaufhaltsamen Pfad des Fortschritts befinde, den ein Blair oder ein Clinton möglicherweise weniger verzögern würde als deren konservative Gegenstücke. Okay, diese kollektive Selbsttäuschung ist etwas, das ich an den Neunzigern vielleicht doch vermisse, aber einmal verloren kehrt sie nie wieder zurück.

Aller Desillusionierung zum Trotz will das aber auch nicht heißen, dass es so etwas wie kontinuierlichen Fortschritt gar nicht gäbe. Ein rarer, aber sehr guter Beleg dafür war immer Nordirland.

Noch 1991 war ich auf London-Reise circa um eine halbe Stunde zu früh durch die Victoria Station gelatscht, um dort in den Splitterhagel einer IRA-Bombe zu geraten. Die Sache der nordirischen Republikaner*innen war aus britischer Sicht derart eindeutig mit Terrorismus assoziiert, dass Sprecher*innen ihrer politischen Partei, der Sinn Fein, in Berichten der BBC nicht gehört werden durften, um ihnen keine Plattform für Propaganda zu bieten. Ihre Stellungnahmen mussten von Schauspieler*innen gesprochen werden.

1997 dagegen war der Wunsch nach einem Ende des Gemetzels, sowohl in London als auch in jener Restkolonie jenseits der irischen See, bereits so stark geworden, dass die irische und Tony Blairs neue Labour-Regierung ihre gesammelten Energien in den Friedensprozess zwischen den dortigen katholischen und protestantischen Fraktionen investierten. Und sich davon auch durch katastrophale Rückschläge wie die Bombe von Omagh mit ihren 29 Todesopfern und über 300 Verletzten nicht abbringen ließen.

Zwar war es weniger Tony Blair als seine mutige Nordirland-Ministerin Mo Mowlam, die bei der Annäherung zwischen Protestant*innen und Katholik*innen (damals repräsentiert von den gemäßigten, späteren Friededensnobelpreisträgern David Trimble und John Hume) die harte Feinarbeit leistete.

Aber man darf schon anerkennen, dass - nach Jahrzehnten des sinnlosen Blutvergießens - die erfolgreiche Einführung einer nordirischen Nationalversammlung auf Basis des sogenannten power-sharing agreement zwischen Unionist*innen und irischen Nationalist*innen in Blairs New-Labour-Ära zustande kam.

Dazu brauchte es allerdings nicht nur über tief verwurzelte Zerwürfnisse hinweg verhandlungsfähige Politiker*innen auf allen Seiten (kann man jetzt auch im aktuellen Kontext der Ereignisse anderswo lesen und verzweifeln), sondern vor allem die Kooperation einer jungen Generation, die schlicht keine Lust mehr auf die alten Hahnenkämpfe hatte – wie übrigens in der eingangs erwähnten, aktuellen BBC-90s-Revival-Serie „Derry Girls“ sehr glaubhaft dargestellt.

Damit sind wir flugs wieder beim in ihrem nordirischen Aspekt dann doch ziemlich epochal wichtigen Ausgang der Wahlen der vergangenen Woche angelangt.

Bevor wir dazu kommen aber zwecks Vollständigkeit und Hintergrund kurz noch drei Absätze zu den schon auch lustigen englischen und schottischen Lokalwahlen, wer will, kann sie ja überspringen:

Die von allerhand Skandalen und dem Heranrollen einer für viele existenzbedrohenden Inflationskrise gebeutelte, konservative Regierungspartei verlor in England und Schottland etwa ein Viertel ihrer Gemeindesitze an Liberaldemokrat*innen, Labour und Grüne. Nicht wirklich seriös, das Ergebnis anteilsmäßig auf das gesamte UK umzulegen, aber täte man es trotzdem, hätte Labour im Unterhaus die relative Mehrheit.

In London verloren die Tories neben gehobenen Middle-class-Bezirken wie Wandsworth und Barnet sogar ihre symbolträchtige Hochburg Westminster an Labour. In Schottland, wo die progressive, separatistische Scottish National Party ihren langen Siegeszug fortsetzt, wurden die Tories auf Gemeindeebene faktisch ausgelöscht, detto in Wales, wo sie selbst die bäuerlich-bürgerliche Bastion Monmouthshire verloren. Die rechte Presse (okay, der Daily Express und die Daily Mail) fand trotzdem Wege, das Ergebnis als einen Erfolg Johnsons im Norden Englands schönzureden. Seine internen Gegner*innen mochten darauf spekuliert haben, ihren für jedes Verantwortungsgefühl verlässlich resistenten Chef nach einem ordentlichen Wahldesaster loszuwerden. Aber dazu scheint auch diese Niederlage immer noch nicht zu reichen.

Die Ablenkung, dass im Gegenzug zum Partygate-Skandal um die Downing Street jetzt tatsächlich gegen Labour-Chef Starmer ermittelt wird, weil er voriges Jahr zu Lockdown-Zeiten nach einer Wahlkampfveranstaltung unter Mitarbeiter*innen stehend ein Bier getrunken hat, erspare ich euch fürs Erste, weil’s dann doch zu dumm wird. Falls daraus ernst wird, melde ich mich.

Stormont, das Parlament in Belfast

APA/AFP/Paul Faith

Das nordirische Parlament von Stormont

Die tatsächliche Umwälzung aber fand letzten Donnerstag eben in Nordirland statt. Zum ersten Mal in der Geschichte der irischen Nationalversammlung haben sich dort nicht die bisher auf die Macht abonnierten Unionist*innen durchgesetzt, sondern jene Unaussprechlichen, die einst im britischen Fernsehen und Radio nicht gehört werden durften: Die laut Eigendefinition „irisch-republikanische, demokratisch-sozialistische“ Sinn Fein, die als Hauptziel immer noch die Abspaltung Nordirlands vom Vereinigten Königreich und die Vereinigung der Provinz mit der Republik Irland verfolgt, heute allerdings mit dezidiert friedlichen, demokratischen Mitteln.

Dabei wurde die Sinn Fein nicht Erste, weil sie so spektakulär dazugewonnen hätte (ein Prozent), sondern wegen des Absackens der bisherigen Mehrheitsfraktion, der erzkonservativen, protestantischen Democratic Unionist Party. Und wegen des gleichzeitigen Aufstieg einer wesentlichen dritten Kraft, der die alten religiösen bzw. ethnischen Gegensätze bewusst hinter sich lassenden, progressiven Alliance Party.

Unübersehbar auffällig war die führende Rolle, die gerade Frauen verschiedener Lager bei diesem Umschwung gespielt haben. Von Alliance-Chefin Naomi Long bis zu Sinn Feins Spitzenkandidatin Michelle O’Neill, die unter dem power-sharing agreement nun zur first minister (de facto Premierministerin) von Nordirland bestellt werden sollte.

Nicht als erste Frau, wohlgemerkt, diese historische Rolle besetzte schon Arlene Foster von der DUP im schicksalshaften Brexit-Jahr 2016.

Mit ihrer dem Remain-Votum der Bevölkerung von Nordirland zuwiderlaufenden, harten Pro-Brexit-Linie brachte sie die nordirische Provinz in genau jene Bredouille, in die sich jetzt ihr glück- und geschickloser Nachfolger Jeffrey Donaldson weiter einzuigeln droht.

Wir erinnern uns noch dunkel an die Tage der Verhandlungen, als euer Korrespondent hier voraussagte, dass das mit der EU als Teil der Brexit-Vereinbarung ausgehandelte Nordirland-Protokoll – eine interne Zollgrenze zwischen der Hauptinsel und Nordirland, damit die Grenze zwischen Nordirland und Irland dem britisch-irischen Karfreitagsabkommen von 1998 gemäß offen bleiben kann – nicht gut enden konnte.

Nicht weil euer Korrespondent so schlau wäre, es lag vielmehr einfach auf der Hand - selbst wenn sich die Londoner Medienöffentlichkeit, aber auch die DUP lieber Boris Johnsons unhaltbaren Versprechungen eines reibungslosen Warenverkehrs über alle Grenzen und Meere hinweg verließen (siehe diese legendär besoffene Performance).

In den anderthalb Jahren seither hat sich die Erzählung verändert, der damalige britische Chefverhandler Lord Frost, damals stolz wie ein Gockel auf seinen Deal, ruft bei jeder Gelegenheit zum einseitigen Bruch des Nordirland-Protokolls auf, das der britischen Seite von der gemeinen EU aufgezwungen worden sei.

Donaldson und die DUP wiederum verlangen nun die Beseitigung des Protokolls als Bedingung für ihre Zustimmung zur Bildung einer neuen Nationalversammlung unter der Führung Sinn Feins.

Im Sinne des unter den politischen Realitäten der Spätneunziger verfassten, nordirischen Power-sharing-Abkommens müssen Unionist*innen und Nationalist*innen sich nämlich die Regierung der Provinz teilen, selbst wenn Sinn Fein, die katholische SDLP (Social Democratic and Labour Party) und die Alliance heutzutage eine demokratisch völlig legitime Koalition bilden könnten. Die DUP verfügt also über die Macht, das Provinzparlament durch ihren Rückzug lahmzulegen. Ob sie das tatsächlich tut, wird sich in den nächsten Tagen weisen.

Es hat jedenfalls seine Ironie, dass ausgerechnet jenes Abkommen, das Ende der Neunziger einen historischen Durchbruch markierte, Nordirland heute zu einer Geisel seiner von religiösen Konflikten gezeichneten Vergangenheit macht.

Doch selbst wenn DUP-Chef Donaldson von seiner gänzlich undemokratischen Erpressungstaktik abrückt, könnte just in diesem Moment eines progressiven Aufbruchs die von der unionistischen Seite empfundene Demütigung noch durchaus gefährlich werden. Neben Donaldson und seiner beleidigten Basis wartet nämlich bereits die neue Konkurrenz von Rechtsaußen in Gestalt des TUV (Traditional Unionist Voice) darauf, jeden Kompromiss zum Verrat zu erklären.

Die Warnungen aus Dublin und Belfast, dass der Brexit in Nordirland explosive Konsequenzen haben könnte, wurde von der Tory-Regierung in London beharrlich ignoriert. Aber wenn wir aus den Ereignissen der letzten Wochen irgendwas gelernt haben, dann ist es wohl, dass der Zug der Zeit nicht automatisch von der Barbarei zur Besonnenheit, sondern auch in die Barbarei zurück führen kann.

Die gestrigen Worte von Michelle O’Neill klangen allerdings überhaupt nicht danach. „Der heutige Tag leitet eine neue Ära ein“, sagte sie nach der Stimmauszählung, und sprach von Fairness, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit „unabhängig von religiösem, politischem und sozialem Hintergrund“, von Partnerschaft statt Entzweiung.

Vernünftigerweise verzichtete sie dabei einstweilen auf jede Erwähnung des langfristigen Ziels der irischen Einheit und sprach stattdessen von „einer Führung, die inklusiv ist, Diversität zelebriert, Rechte und Gleichheit für alle garantiert, die in der Vergangenheit ausgeschlossen, diskriminiert oder ignoriert wurden.“

Wie vielversprechend das klingt, wie leicht es ins Ohr geht. Sie ist dann doch immer wieder ansteckend, die Hoffnung. Aber ein guter Ausgang ist nie garantiert.

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