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Sibylle Berg

Joseph Strauch

Der Schatz der Realität des Wahnsinns

Sibylle Berg hat in ihrem großen Roman „GRM – Brainfuck“ noch eine Dystopie gezeichnet. Der direkte Nachfolger „RCE – #RemoteCodeExecution“ ist der konsequente Nachfolger

Von Boris Jordan

„Keiner kann mehr sagen, ich würde dystopische Bücher schreiben, weil wir sitzen mitten drin. und das merkt jetzt langsam jede und jeder.“ (S.Berg)

Utopie wäre „kein realer Ort“, Dystopie ein „unerwünschter Ort in der Zukunft“. Die Welt in RCE ist beides nicht: Es ist unsere sehr reale Welt der Gegenwart.

Der Ort ist hier und die Zeit ist jetzt – und es ist kein guter Ort, es ist eine schlimme Zeit: Der Klimawandel hat voll eingesetzt, soziale Fürsorge ist abgeschafft, die Städte und sämtliche reale Öffentlichkeit sind in Privatbesitz von Oligarchen oder – wie sie „im Westen genannt würden“ - „Philantropen“, die Gesellschaft ist voll überwacht, unangemeldete öffentliche Zusammenkünfte sind verboten, was von Drohnen und Polizeirobotern der Firma „Boston Dynamics“ exekutiert wird.

Wohnen ist unerschwinglich, Wasser und Energie sind „für die Umwelt“ rationiert, wenn auch nur für die Armen, Badewannen gibt es nicht mehr. Sämtliche Lohnarbeit ist prekär, die Löhne am Existenzminimum, Angst vor Job- und Wohnungsverlust bestimmt die 10-Stunden-Arbeitstage einer großen Mehrheit von Lohnabhängigen.

Jegliche Zerstreuung, jegliche zwischenmenschliche Interaktion, die gesamte Information und Desinformation findet im Netz statt, das einer Handvoll reicher Leute gehört. Man spielt, kauft, denkt liest und sieht, was diese Leute wollen. Man spricht mit Chatbots, man hat Sex mit Avataren und ist selbst einer, die meisten Menschen haben gar keinen Sex, die Menschheit schrumpft.

Cover mit abstrakter Grafik

Kiepenheuer & Witsch

„RCE. #RemoteCodeExecution“ von Sibylle Berg ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Private Versicherungsgesellschaften, private Immobilienspekulanten, private Banken, private Krankenanstalten, private Securityfirmen sind im Besitz sämtlicher Daten, wissen alles über die Menschen. Große Konzerne handeln mit Daten und Informationsvorsprüngen und benutzen diese unter anderem, um so gut wie keine Steuern zu zahlen – und die Renditen aus diesem gigantischen System werden verlässlich, planvoll und in Lichtgeschwindigkeit in den wenigen Händen konzentriert.

Sibylle Berg: „Ich merkte, als ich so bei GRM ans Ende gelangte, dass es eigentlich der Zustand ist, in dem wir uns befinden, ohnmächtig und paralysiert. Du hast so viele Brandherde, dass du nicht weißt, als einzelner Mensch nicht weißt: Wo soll ich löschen? Wie kann ich diese verdammte Welt retten? Soll ich mich im Hambacher Forst engagieren? Gibt es den überhaupt noch oder hat RWE gewonnen? Keine Ahnung. Was mache ich? Gehe ich demonstrieren? Mache ich journalistische Arbeit? Kunst? Tanze ich für die Weltrettung? Das ist so, das ist, glaube ich, die Situation, die wir haben.“

Retten Nerds die Welt?

Eine Gruppe junger Hacker und Gamer – wir sind einigen schon in „GRM - Brainfuck“ begegnet – beschließt, etwas zu tun. Das Netz ist der Schlüssel zur Gesellschaft und mit nichts kennen sich die jungen Nerds besser aus als mit Codes. Könnte man das Netz und seine – ihnen so gut bekannten wie gut beherrschbaren - Mechanismen nicht dazu nützen, die Isolation der Menschen und das individuelle Ohnmachtsgefühl anlässlich des buchstäblich drohenden Untergangs der Welt zu durchbrechen? Die Menschen zusammenzubringen, über die wahren Zusammenhänge der Welt nicht nur aufklären, sondern ihnen diese auch wirklich näher bringen? Vielleicht sogar mit den Mitteln der Unterhaltungsindustrie, der Games, der Reality Shows, der Prominentenverehrung, der Social Media Plattformen, mit Hilfe all der AI, der Chatbots und Algorithmen, an die die Menschen schon gewohnt sind?

Was wäre, wenn die Algorithmen der Plattformen plötzlich der Wahrheit dienten, und nicht mehr der Desinformation? Was wäre, wenn die Menschen im Netz und in der Welt wüssten, wie sie funktioniert, abseits von Verschwörungstheorien, mit echten Verschwörungen? Könnte man in einem groß angelegten Hoax es schaffen, dass die Menschen endlich sich selber als Handelnde begreifen, anstatt Oligarchen zu bewundern. Dass sie merken, dass es handelnde Personen gibt, die vom Elend profitieren - und nicht etwa von einer allgemein hereinbrechenden „Krise“ oder Konjunktur, sondern von genau dem individuellen Elend eben der staunenden Individuen, die sich daran gewohnt hatten, als schweigende und duldende „Masse“ im Dumping-Wettbewerb aufeinander gehetzt zu werden?

Also versuchen sie es, und wir sind dabei.

Remote Code Execution

Die Protagonistinnen aus GRM - Brainfuck und die Gruppe HackerInnen sind in RCE umgeben von einer riesigen, absichtlich unübersichtlichen Zahl an Nebenfiguren, vom polnischen Hacker bis zur deutschen Milliardärin aus einer Nazi-Familie. Alle handelnden Figuren haben nur Vornamen und werden mit Hilfe eines standardisierten Überwachungsprofils portraitiert, das etwa „Gefährdungspotential“, „Sexuelle Orientierung“ und „Gemütszustand“ einschließt. Und zu jeder dieser Figuren gibt es eine besondere Geschichte, lauter Einzelschicksale oder Lebensumstände, die direkt auf eines der Millionen Probleme und Skandale hinweisen, die uns die spätkapitalistische Konkurrenzgesellschaft beschert hat.

Im unbeirrten, unermüdlichen Aufzählen des Unerhörten, des banal-Grausamen gleicht Sibylle Berg in ihrer Gnadenlosigkeit hier der großen Elfriede Jelinek oder dem einsamen Kämpfer Noam Chomsky. Sie hat große Lust, all die Firmen und Akteure beim Namen zu nennen.

Neben der Handlung erinnert Sibylle Berg die Leser*in in kurzen Abrissen voller Erzähllust und in einem distanziert- lakonischen Ton, an all die Skandale der letzten 50 Jahre, die im Strom einer Dauerkrise oft nur bis zur nächsten Schlagzeile in Erinnerung bleiben: Sklaverei, Umweltskandale, Soziallabbau, Wahlbetrug, Steuerhinterziehung, Bankenrettung und und und ... Fast wie der Strom von ununterscheidbarer Information im Netz soll das wirken, ein Wust von unverarbeitbarem Wahnsinn – nur dass es sich bei Berg sämtlich um belegbare Tatsachen aus Wirtschaft und Politik handelt.

Allein dieses Stilmittel – wenngleich zu Recht ermüdend – rechtfertigt die Lektüre von RCE, macht das Buch zu einem wahren Schatz der Realität

Denn „RCE – #Remote CodeExecution“ ist nicht nur - in seinen Handlungssträngen und Hauptfiguren - der Nachfolger von GRM, der Roman ist auch ein Ergebnis von Sibylle Bergs 2020 erschienen Interviewband „Nerds“, in dem die Autorin namhafte Wissenschaftlerinnen zu den wichtigsten Fragen der Zukunft befragt hatte. Für RCE sind die Ergebnisse aus diesen vielen Gesprächen – Berg muss hunderte davon geführt haben – ein zentrales Stilmittel.

So wird auch die Leser*in zur Komplizin der Fülle an Wissen, über das die Menschheit zur Rettung und Gestaltung der Welt verfügt - und ertappt sich beim Gedanken, den vielleicht schon viele hatten: Wir wissen alles Nötige - warum tut niemand das Richtige?

Und ob die Nerds es letztlich schaffen, will man auch noch unbedingt wissen.

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