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Fabriksgelände in Narva

Nina Hochrainer

Brückenbau im Schatten des Krieges

Ein Besuch bei der Tallinn Music Week und an der estnisch-russischen Grenze

Von Nina Hochrainer

Sonnig, aber auch ganz schön kalt und windig ist es in der estnischen Hauptstadt Tallinn Anfang Mai. Kein Wunder, Tallinn liegt direkt an der Ostsee, genauer gesagt am finnischen Meerbusen, von Helsinki nur eine zweistündige Fahrt mit der Fähre entfernt. Nach einem kurzen Abstecher ans eisblaue Meer führt mich mein Spaziergang hinein in die hübsche mittelalterliche Innenstadt, eine der am besten erhaltenen Europas. Rund um den Stadtkern wird fleißig gebaut: Tallinn hat sich in den letzten Jahren zu einem der größten Tech-Start-up-Hubs in Europa entwickelt und präsentiert sich heute als moderne, digitale Metropole. Aber auch als Kultur- und Musikstadt hat sich Tallinn einen Namen gemacht - vor allem dank der Tallinn Music Week, die auch der Grund meines Besuchs ist.

Tallinn

Nina Hochrainer

Die Altstadt von Tallinn

Die Tallinn Music Week ist eine Konferenz für die europäische Musik- und Kreativbranche und ein Showcasefestival für Musik vor allem aus Nord- und Osteuropa. An verschiedenen Venues der Stadt finden ein Wochenende lang Konzerte, Workshops und Diskussionspanels statt. Ins Leben gerufen wurde das Festival 2009 von Helen Sildna, die sich zwischen all den Terminen Zeit für einen Kaffee und ein Gespräch mit mir nimmt.

Helen Sildna

Nina Hochrainer

Helen Sildna, Gründerin der Tallinn Music Week

„Unsere Mission war von Beginn an, eine Möglichkeit für estnische Kunstschaffende zu bieten, um auch im Ausland sichtbarer zu werden. Nun, 14 Jahre später, sind viele heimische Acts auch international bekannt”, erzählt sie. Doch nicht nur das: Die Tallinn Music Week ist zugleich stetig gewachsen und zu einer wichtigen Plattform für neue Musik aus dem Baltikum und Nordeuropa sowie dem gesamten osteuropäischen Raum geworden. „Wir wollten immer eine Brücke zwischen Osteuropa und dem ‚älteren‘ Europa sein, und es war klar, dass Osteuropa einen Aufholbedarf in Sachen Kulturexport hatte. Heute kommen über 200 Artists aus 35 Ländern auf die Tallinn Music Week“, erklärt Helen nicht ohne Stolz.

Auch viele up-and-coming ukrainische und russische Acts waren in den letzten Ausgaben der Tallinn Music Week immer im Line-up vertreten, doch dann kam der Angriff Russlands auf die Ukraine – ausgerechnet am Tag der estnischen Unabhängigkeit. Helens stolzes Lächeln weicht einem ernsten Gesichtsausdruck: „Am 24. Februar hat sich die Welt für viele von uns verändert. Wir waren kurz davor, das diesjährige Line-up zu verkünden. Paradoxerweise hatten wir so viele russische und ukrainische Acts wie noch nie eingeladen, aber aufgrund des Kriegsausbruchs wussten wir nicht mal, ob irgendjemand aus der Ukraine zu uns kommen kann.“

Paradoxerweise hatten wir so viele russische und ukrainische Acts wie noch nie eingeladen

Fünf Künstler*innen aus der Ukraine haben es nach Tallinn geschafft. Einigen wurde auch eine zweimonatige Art Residency in den Tallinn Sound Studios angeboten. Darunter auch die ukrainisch-äthiopische Hip-Hop-Gruppe Fo Sho, bestehend aus den drei Schwestern Betty, Siona und Miriam. Ich treffe zwei von ihnen am Tag nach ihrem Auftritt. Sie erzählen mir, dass sie mit ihrer Familie aus ihrer Heimatstadt Kharkiv nach Deutschland geflüchtet sind und jetzt versuchen, auf neuem Boden musikalisch Fuß zu fassen. „Wir sind fast nackt nach Deutschland gekommen, mit nur ein paar kleinen Taschen. Die Art Residency hier in Tallinn ist eine großartige Gelegenheit für uns, an unserer Musik zu arbeiten und zu lernen, wie die europäische Musikszene funktioniert.“

Fo Sho

Nina Hochrainer

Selfiesession mit den äthiopisch-ukrainischen Hip-Hop-Schwestern Fo Sho

2019 haben Fo Sho mit dem Musikmachen begonnen und seitdem neben erfolgreichen Hip Hop Acts wie Alyona Alyona die ukrainische Musiklandschaft aufgemischt. Sie haben Konzerte gespielt und am Debütalbum gearbeitet.

Es ist sehr heilsam zu sehen, dass es Frieden in anderen Ländern gibt, dass die Welt noch nicht kollabiert ist.

Das Jahr 2022 hatten Fo Sho sich wohl anders vorgestellt. „Nach der Invasion konnten wir eineinhalb Monate lang überhaupt keine Musik hören. Wir haben bei jedem Geräusch Angst bekommen, sogar vor dem Sound der Waschmaschine. Jetzt wieder zur Musik zurückzukehren und im Austausch mit anderen Artists zu stehen, ist eine Art Therapie für uns. Es ist sehr heilsam zu sehen, dass es Frieden in anderen Ländern gibt, dass die Welt noch nicht kollabiert ist.“ Ich will mehr über ihre Zukunftspläne wissen, bemerke dann aber, wie unmöglich diese Frage zu beantworten ist. „Wir haben gelernt, dass wir nichts planen können. Also gehen wir mit dem Flow, bleiben kreativ und machen einfach weiter.“ Ich wünsche Fo Sho alles Gute. Nach dem Gespräch gibt’s noch eine ausgiebige gemeinsame Selfiesession – Instagram will schließlich auch befüllt werden.

Estland hat eine turbulente Geschichte von Unterdrückung und Okkupation hinter sich. Nach dem Ersten Weltkrieg war das Land kurz unabhängig, wurde im Zweiten Weltkrieg von den Nazis besetzt, dann von sowjetischen Truppen erobert, bis es 1991 seine Unabhängigkeit wiedererlangte. Heute ist Estland als Mitglied von EU und NATO sehr westlich orientiert.

Estland ist in der Europäischen Union eines der Länder, das am schärfsten Kritik an Putins Krieg gegen die Ukraine übt. Das kleine Land hat seit Kriegsbeginn über 25.000 Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen und zeigt sich als ehemaliger Sowjetstaat besonders solidarisch. Die Annexion der Halbinsel Krim durch Russland 2014 und der gegenwärtige Krieg haben in der estnischen Bevölkerung Ängste entfacht, dass Wladimir Putin weitere hegemoniale Ansprüche stellen könnte. „Natürlich sehen wir die aktuelle Situation aufgrund unserer Erfahrungen viel kritischer. Wir wissen, was es bedeutet, in Unterdrückung zu leben. Eine Grenze mit Russland zu teilen, haben wir immer im Hinterkopf, und so sehr wir gerne glauben würden, dass sich die Dinge verändert haben, können wir doch kein volles Vertrauen haben“, meint Helen.

Auf der Tallinn Music Week sind dieses Jahr keine Künstler*innen aus Russland vertreten. Ich frage Helen Sildna, warum sie sich für diese Cancel-Strategie entschieden hat. „Es war eine sehr, sehr schwierige Entscheidung, aber wir haben sie gemeinsam mit unseren russischen Partnerorganisationen, denen wir vertrauen, getroffen. Wir hatten ein gemeinsames Zoom-Call und haben beschlossen, dass es für die ukrainischen Künstler*innen schwierig wäre, wenn auch russische Acts vertreten sind. Aber wir haben gleichzeitig klar gemacht, dass wir den Dialog fortführen und sie nicht isolieren wollen, denn viele unserer russischen Partner sind in den Oppositionsbewegungen tätig, organisieren Proteste und leiden auch unter brutaler Unterdrückung.“

Auch wenn Krieg wenig Nuancen erlaubt, sei es doch wichtig, nicht in ein Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen, meint sie weiter. So betonte auch der estnische Präsident Alar Karis in einer vielbeachteten Rede zu Beginn des Kriegs: „Das ist nicht der Krieg der russischen Bevölkerung gegen die Ukraine. Das ist Putins Krieg.“ Ein wichtiges Statement, denn in Estland ist ein Viertel der Bevölkerung russischsprachig. Es gibt Bedenken, dass Putin die russischsprachige Minderheit in Estland in seine Einflusssphäre bringen will. Die estnische Regierung hat deswegen nun russische Propagandamedien im Land verboten. Auch den vergangenen Versäumnissen in der Bildungs- und Integrationspolitik will man jetzt entgegenwirken. Für Helen Sildna liegen die potenziellen Konfliktherde und Bruchstellen allerdings nicht nicht zwischen der estnischsprachigen und russischsprachigen Bevölkerung, sondern innerhalb der russischsprachigen Community selbst. „Die meisten jungen Menschen sind sehr stolz darauf, zu Estland und zur EU zu gehören und der Krieg in der Ukraine ist inakzeptabel für sie. Aber dann gibt es Teile der Gesellschaft, die russischen Medien folgen und die Dinge anders sehen – und das hat viele Familien entzweit.“

Narva – Stadt zwischen zwei Welten

Um ein Zeichen der Einheit und Solidarität mit der russischsprachigen Community zu setzen, hat sich die Tallinn Music Week dieses Jahr erstmals als Two-City-Festival präsentiert und auch in der Stadt Narva ihre Zelte aufgeschlagen. Der russischsprachige Anteil der Bevölkerung dort liegt bei über 95 Prozent. Wenn man Narva auf der Landkarte sucht, findet man es im obersten östlichen Eck Estlands, direkt an der russischen Grenze, circa zweieinhalb Autostunden von St. Petersburg. Narva formt auch die EU-Außengrenze und ist, wie es Helen Sildna poetisch sagt, der Ort, an dem die Europäische Union beginnt.

Festivalplakat in Narva

Nina Hochrainer

Nach der russischen Annexion der Krim 2014 geisterte der Satz „Narva is next“ durch die Medien, der auch aktuell wieder in aller Munde ist. Er verweist auf die geschichtliche und geopolitische Bedeutung dieser Stadt für Russland und auf die Befürchtung, dass Putin Narva wieder vereinnahmen wollen könnte.

Bei der Eröffnung des Festivals in Narva ist von diesen Ängsten nichts zu spüren. Es ist ein strahlend sonniger Tag, der Geruch von gegrilltem Fleisch und ein Gefühl von freudiger Erwartung liegen in der Luft, während sich Verteter*innen der gesamten europäischen Musikbranche unter die Locals mischen.

Auch der estnische Präsident Alar Karis ist anwesend und hält eine leidenschaftliche Rede über die Bedeutung von Musik in Kriegszeiten. „Musik hilft uns, stark und am Leben zu bleiben. Musik darf nicht still werden, wenn Kanonen donnern“, sagt er. Narva bezeichnet er als Stadt mit reicher Vergangenheit und leidenschaftlicher Gegenwart.

Wenn man vom mittelalterlichen Charme Tallinns verwöhnt ist, präsentiert sich Narva aber als visueller Schock: Die früher prächtige Barockstadt wurde im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört und in der Sowjetzeit als Industriestadt wieder aufgebaut. Auf der Bustour durch die Straßen sehen wir hauptsächlich langgezogene Wohnblöcke und unverputzte Fassaden, während uns der Tourguide erklärt, warum Narva an Bevölkerungsschwund leidet. „Vor zehn Jahren hatten wir noch 65.000 Einwohner, jetzt sind es nur mehr 53.000. Der Hauptgrund ist das Alter der Bevölkerung. In der Sowjetzeit kamen viele junge Menschen in die Stadt. Nun sind alle plötzlich gleichzeitig alt.“ Kurze Stille, dann Gelächter im Bus ob seiner trockenen, fast sarkastisch wirkenden Erläuterungen.

Brücke

Nina Hochrainer

Zurück am Festivalgelände treffe ich den jungen Architekten Ivan Sergejev. Er wurde in Russland geboren und kam als kleines Kind nach Narva. Bis vor kurzem war er der Chefarchitekt der Stadt und weiß entsprechend viel über Narva.

Ivan Sergejev

Nina Hochrainer

Im Gespräch mit dem Architekten Ivan Sergejev

„Narva ist ein seltsamer Ort. Man kann die Geschichte irgendwie fühlen, aber sie manifestiert sich nicht in der Architektur der Stadt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist auch die Industrie hier zusammengebrochen. Viele Menschen waren arbeitslos und desillusioniert, ein sozialer Albtraum.“ Heute ist die Stimmung positiver, vor allem seit der Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt 2024. „Das hat in den Köpfen der Menschen viel verändert. Auch wenn wir letztlich gegen die Stadt Tartu verloren haben, haben wir ein neues Gemeinschaftsbewusstsein gewonnen und sind stolz auf unsere Stadt.“

Historisch oszilliert Narva wie viele andere Grenzstädte zwischen zwei Polen. Einmal als Ort lebendigen kulturellen und wirtschaftlichen Austausches, dann wieder als Endpunkt und Konfliktzone. „Momentan ist es wieder mehr ein Vorhang. Es muss etwas auf der anderen Seite sein, damit man dorthin gehen kann.“ Narva ist durch mehrere Brücken über den gleichnamigen schmalen Grenzfluss mit ihrer russischen Schwesternstadt Iwangorod verbunden. Über die Fußgängerbrücke sieht man momentan nur vereinzelt Menschen spazieren. Sehr beeindruckend, fast bedrohlich wirken die zwei Festungstürme auf beiden Seiten des Flusses. „Ich habe noch niemanden getroffen, der diesen Anblick nicht dramatisch gefunden hätte“, meint Ivan. „Hier sieht man zwei Kulturen aufeinanderprallen.“

Fluss, über den eine Brücke führt, auf beiden Seiten Festungen

Nina Hochrainer

Unter den Bewohner*innen der Stadt verortet Ivan aktuell eine Identitätskrise. „Ich selbst als russischsprachiger Este fühle mich seltsam. Ich sollte doch das Land, in dem ich geboren bin, unterstützen, ich repräsentiere die russische Kultur, aber ich will nicht mit dem Massaker, das gerade in der Ukraine geschieht, assoziiert werden.“

Wie Helen Sildna verweist auch er auf die vielen Konflikte, die dadurch innerhalb vieler russischsprachiger Familien entstanden seien. „Auf einer persönlichen Ebene hat dieser Krieg sehr viel Schaden verursacht. Aber die meisten estnischsprachigen Menschen hier verstehen, wie schwer es ihre russischsprachigen Landsleute gerade haben, und ich finde es gut, dass die Regierung diese Problematik auch erkennt und sich damit auseinandersetzt.“ Dann meint Ivan noch: „Es ist gut, dass du hier bist. Man soll Orte nicht aufgrund ihrer Lage auf der Landkarte beurteilen, sondern sich selbst einen Eindruck verschaffen. Hier direkt an der Grenze zu sein – das ist doch eine Erfahrung.“

Zum Schluss noch ein Mut machender Exkurs in die Geschichte Estlands: Ihren Weg zurück in die Unabhängigkeit haben sich die Estinnen und Esten zwischen 1988 und 1991 regelrecht ersungen - in friedlichen Massendemonstrationen, in denen zigtausende Menschen zusammenkamen, um gemeinsam zu singen - die sogenannte „singende Revolution“.

Fabriksgelände

Nina Hochrainer

In Narva ist inzwischen die Sonne untergegangen und die Festivalbesucher*innen pilgern zur letzten Konzertlocation des Tages, einer imposanten aufgelassenen Textilfabrikanlage. In den bunt beleuchteten Ruinen vermischt sich die Musik mit dem Lachen und Stimmengewirr von Menschen aus ganz Europa. Zumindest an diesem Abend möchte man daran glauben, dass Musik wirklich Menschen vereinen und Grenzen überwinden kann.

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