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Lilian Thuram

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„Man wird nicht weiß geboren, man wird dazu gemacht“

Der ehemalige Fußballstar Lilian Thuram erzählt in seinem Buch „Das weiße Denken“ von der Erfindung der Kategorien Schwarz und weiß und wie uns dieses Denken immer noch gefangen hält.

Von Rainer Springenschmid

Lilian Thuram ist es gewohnt, sich einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen – und er reflektiert schon sehr lange seine Erfahrungen mit Rassismus. Der inzwischen 50-jährige ist im französischen Übersee-Département Guadeloupe geboren und begann seine Karriere als Profi-Fußballer 1990 beim AS Monaco. Er ist französischer Fußball-Rekordnationalspieler, Welt- und Europameister und galt schon während seiner Karriere bei Clubs wie Juventus Turin und dem FC Barcelona als reflektierter Denker, der sich zu den Problemen mit Rassismus im und außerhalb des Stadions zu Wort meldete.

Seit dem Ende seiner Fußballkarriere widmet sich Thuram nun hauptberuflich der antirassistischen Bildungsarbeit. Er hat eine Stiftung gegründet (die Fondation Lilian Thuram – Éducation contre le racisme), eine preisgekrönte Ausstellung zu Menschenzoos co-kuratiert und mehrere Comics und Bücher zum Thema veröffentlicht. Das neueste Buch, La pensée blanche, wurde von Cornelia Wend ins Deutsche übertragen und ist kürzlich unter dem Titel „Das weiße Denken“ in der Edition Nautilus erschienen.

Zur Schreibweise von Schwarz und weiß merkt die Übersetzerin an: Der Autor verwendet den französischen Begriff couleur („Farbe“) bzw. couleur de peau („Hautfarbe“). Da er damit nicht die tatsächliche Pigmentierung der Haut meint, sondern die politisch-soziale Kategorie innerhalb einer rassistisch strukturierten Gesellschaft, verwendet diese Übersetzung den Begriff Race, der diese Konnotation eher transportiert als das deutsche Wort „Hautfarbe“. Das groß geschriebene „Schwarz“ und das kursivierte „weiß“ markieren analog die jeweilige Kategorie in Abgrenzung zur tatsächlichen Farbe der Haut.

Darin versucht Thuram, den akademischen Diskurs auf den Boden zu holen. Er erzählt von seinen Erfahrungen mit Rassismus und von der Reaktion seines Umfelds. Er zeichnet die Geschichte des Rassismus nach, die Erfindung der Kategorien Schwarz und weiß und wie erst diese Erfindung es ermöglichte, Menschen wie Dinge zu behandeln, auszubeuten und zu versklaven. Er setzt der Geschichte des Kolonialismus als eine Erzählung von Entdeckungen und Eroberungen eine andere Perspektive entgegen: Kolonialismus als eine Geschichte des Rassismus, der Unterdrückung und der Ausbeutung.

„Man wird nicht weiß geboren, man wird dazu gemacht“. Das ist die Grundthese von „Das weiße Denken“, die Thuram sich von Simone de Beauvoir entlehnt hat. Die französische Feministin hat vor mehr als einem halben Jahrhundert den Satz geprägt: „Man wird nicht als Frau geboren: Man wird dazu gemacht“ – und auch Lilian Thuram erklärt die Unterschiede zwischen Schwarzen und weißen Menschen als Narrativ, erfunden und aufrecht erhalten zum Zwecke des Machterhalts und der Ausbeutung.

Geschichte aus der Gegenperspektive

Bis heute, so Thuram, werde in den Schulen die Geschichte des Kolonialismus und seiner Folgen ausschließlich aus europäischer Perspektive erzählt, von der präkolonialen außereuropäische Geschichte erfahren wir in europäischen Schulen und Universitäten so gut wie gar nichts – und so entstehe das Bild der außereuropäischen Welt als unzivilisiert.

Wer hat in der Schule von den mittelalterlichen Reichen Mali und Ghana gehört, die in ihrer Zeit zu den mächtigsten und reichsten Herrschaftsgebieten der Welt gehörten, oder von den antiken äthiopischen Hochkulturen? Wer sieht das antike Ägypten als afrikanische Hochkultur? Wer hat detailliertere Kenntnisse über die Bewohner*innen des präkolumbianischen Amerika, die über das hinausgehen, was europäische Massenmörder zur Rechtfertigung ihrer Taten übermittelten? Wer weiß schon, dass Westeuropa über Jahrtausende ein unbedeutender Appendix der Weltereignisse war, während sich ökonomische und kulturelle Entwicklungen vor allem in China, Indien, Afrika und der arabischen Welt abspielten?

Im historischen Teil, der das Gros des Buches ausmacht, zeigt Thuram auch auf, dass unsere Gesellschaften bis heute von diesen rassistischen Erzählungen geprägt sind, von der Idee von „rückständigen“ Völkern oder Kulturen. Selbst die Vorstellung, die Menschheit habe sich seit ihren Anfängen permanent weiterentwickelt (zum Besseren nämlich), transportiert dieses Bild.

Thuram belegt seine Themen mit vielen Zitaten und Literaturhinweisen. Philosophische Klassiker kommen ebenso zu Wort wie feministische und antirassistische Denker*innen von der Antike bis heute, er zitiert auch rassistische Originaltexte, zum Beispiel aus Schulbüchern und Gesetzen. Vor allem die historischen Kapitel basieren überwiegend auf Zitaten, was sie plastisch und glaubwürdig macht.

Lilian Thuram - "Das weiße Denken"

Nautilus

„Das weiße Denken“ von Lilian Thuram ist als deutsche Erstausgabe in einer Übersetzung aus dem Französischen von Cornelia Wend in der Edition Nautilus erschienen.

Das vorherrschende Denkmodell der westlichen Welt

Das weiße Denken, das ist für Lilian Thuram das, was akademisch als „systemischer Rassismus“ bezeichnet wird – und eigentlich mehr als das: es ist das vorherrschende Denkmodell der Westlichen Welt, ein Denkmodell, das Politik und Ökonomie weltweit dominiert und von dem trotzdem nur eine Minderheit profitiert. Thuram zeigt, wie wir alle, ob wir es wollen oder nicht, in dieses Denkmodell hineinerzogen werden und darin verstrickt sind, egal welche Hautfarbe und welches Geschlecht wir haben – aber auch, wie unterschiedlich wir davon betroffen sind.

Er zieht die Querverbindungen zur Unterdrückung von Frauen, zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, zu Artensterben und Klimakatastrophe; er zeigt, wie das weiße Denken unser aller Hirne in Beschlag genommen hat, als selbstverständlich betrachtet und von der Mehrheit der Menschen (zumindest in der „westlichen Welt“) gar nicht hinterfragt wird.

Es geht nicht um Schuldzuweisungen

Immer wieder betont Thuram, dass es nicht um persönliche Schuldzuweisungen geht, sondern um das Aufzeigen eines Systems, eines Denkmodells und seiner Folgen. Er verlangt keine Entschuldigungen, aber er verlangt, dass sich auch die mit dem weißen Denken und seinen Folgen beschäftigen, die davon profitieren.

Thurams Status als französischer Rekordnationalspieler verschafft ihm Zugang zu den Eliten des Landes – und er verschafft seiner Stimme Gehör. Die persönlichen Erlebnisse aus seiner Fußballkarriere und auch aus seiner antirassistischen Bildungsarbeit machen sein Anliegen plastisch und nachvollziehbar. Wahrscheinlich ist es seiner Zeit als Fußballer zu verdanken, dass er es gewohnt ist, seine Anliegen einer breiten Masse verständlich zu machen, ohne sie vor den Kopf zu stoßen. Er schafft es, die Balance zwischen Reflexion und Wut, Diskurs und Betroffenheit, zwischen Innen und Außen zu halten und zu vermitteln. Er will nicht anklagen, sondern einen Ausweg finden, aber er hat auch ein Anliegen: Damit die Hautfarbe ihre Bedeutung für alle verlieren kann, müssen sich auch die Weißen ihrer Hautfarbe und ihrer damit verbundenen Position bewusst werden.

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