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Lin Hierses Debütroman „Wovon wir träumen“

Ist Migration eine Geschichte von Traumata oder von Träumen? Eine Geschichte des Fehlens oder der Fülle? Diesen Fragen widmet sich Lin Hierse in ihrem Debütroman „Wovon wir träumen“ und zaubert dabei eine berührende Mutter-Tochter-Geschichte, die unter die Haut geht.

Von Melissa Erhardt

Manchmal gibt es einfach nur diese eine Geschichte, die man erzählen muss, diese eine Story, die raus muss. Bei Lin Hierse ist das ihre eigene Geschichte: Die Geschichte einer jungen Frau, die in Niedersachsen als Tochter eines deutschen Vaters und einer chinesischen Mutters geboren wird und deren Leben sich fortan irgendwo zwischen Braunschweig und Shanghai abspielt. „Ich hab mich nicht hingesetzt und gesagt, ich mach jetzt Autofiktion oder so, sondern ich hab halt angefangen zu schreiben und dann war es das“, erzählt sie im Couchreport-Podcast der taz über ihr Debüt „Wovon wir träumen“.

Im Roman reist eine junge Frau zur Beerdigung ihrer Großmutter nach China. Die Reise in die Berge Shaoxings löst in ihr etwas aus: Sie fragt sich, warum ihre Mutter damals aus China weggegangen ist, wovon sie damals geträumt hat und was das eigentlich für sie bedeutet. Keine einfachen Fragen.

Lin Hierse lebt in Berlin und arbeitet seit 2019 als Redakteurin für die deutsche taz. In ihrer Kolumne „Poetical Correctness“ kommentiert sie alle 14 Tage das Weltgeschehen – und das, wie der Name bereits vermuten lässt, auf eine äußerst poetische und ästhetische Weise. Wie etwa Anfang März, als sie über den gerade ausbrechenden Ukraine-Krieg schreibt:

„In letzter Zeit steht der Mond auch tags am Himmel, stur, als weigerte er sich auch noch unterzugehen. Hier ist Tag und Nacht, da ist Krieg und Frühling. Alles blüht und alles brennt. Die Nachrichten, die Herren-Bundesligatabelle, die Lottozahlen, das Wetter. Syrien, Afghanistan, Jemen, Ukraine. Würdest du sagen, das war schon immer so, doch erst jetzt kann man kaum noch wegsehen?“

Mit ihrem Debütroman „Wovon wir träumen“ ist sie heuer nach Fatma Aydemir die zweite taz-Redakteurin, die einen Roman über das große Konstrukt Familie geschrieben hat – und das mit Nachdruck.

Ein nie enden wollender Gedankenstrom

Hierses Roman trägt das Träumen nicht nur im Titel, er liest sich auch ein bisschen wie ein schwummriger Tagtraum in der prallen Sonne. Hierse schreibt mit einer gewissen Schwere in ihren Worten, mit einer melancholischen Grundstimmung, im selben Atemzug eine große Vorsicht und Behutsamkeit. Wie ein nie enden wollender Gedankenstrom zieht sie uns in ihre Welt, die aus Erinnerungen, Träumen und Gedanken besteht, befördert uns von einer Szene zur nächsten: die Besuche bei ihrer Familie in Shanghai, die erste eigene Wohnung in Berlin, die spätsommerlichen Nachmittage im Garten ihrer Mutter, umgeben von Magnolien und Apfelbäumen, an denen die beiden über das Leben philosophieren. „Was bedeutet Freiheit für dich? Und ein gutes Leben?“, fragt sie an einer Stelle im Buch. „Das kann niemand genau sagen. Man kann nur davon träumen und sich bemühen“, antwortet ihre Ma.

„Wovon wir träumen“ handelt von Identität und Zugehörigkeit, von Mutter- und Tochterschaft, vom Wunsch, sich von der eigenen Mutter abzugrenzen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, nur um am Ende doch wieder ihre Nähe zu suchen. „Ob die Mütter anderer Töchter auch so an ihnen kleben?“, fragt sich die Protagonistin an einer Stelle, „Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt und sitze in meinem Kinderzimmer, halte ein Plüschtier in den Händen und bin verletzt, weil meine Mutter mich nicht schön findet“, sagt sie an einer anderen.

Ob die Mütter anderer Töchter auch so an ihnen kleben?

Dazwischen verflicht Lin Hierse immer wieder Momente der chinesischen Geschichte mit persönlichen Anekdoten. Etwa, als die Mutter der Protagonistin geschockt auf deren Kurzhaarschnitt reagiert, weil er sie an die Zeiten der chinesischen Kulturrevolution erinnert, als allen Mädchen in der Schule mit rostigen Scheren die Haare auf Kinnlänge geschnitten wurden, ob sie wollten oder nicht. Auch der chinesischen Geschichte Deutschlands lässt Hierse ihren Platz, wenn es in einem Kapitel beispielsweise um Hamburgs vergessenes „Chinesenviertel“ geht.

Cover "Wovon wir träumen"

Piper Verlag

„Wovon wir träumen“ ist im Piper Verlag erschienen.

Die ewige Suche nach dem guten Leben

Man versteht die Dinge, von denen Hierse schreibt, wahrscheinlich besonders gut, wenn man selbst zwischen zwei Welten aufgewachsen ist. Es ist der ewige Versuch, beide Welten miteinander in Einklang zu bringen, seine eigene Geschichte zu rekonstruieren, aus den Bruchstücken, die man hat, seien es Fotos oder Erzählungen, und den vielen fehlenden Stücken, die man nur erahnen kann. Es ist der Versuch, im Mutterland die Zugehörigkeit zu finden, die einem im eigenen Land oft verwehrt geblieben ist. Ein ewiger Kampf zwischen den Positionen „Gast“ und „Bewohner“, der aus vielen kleinen Siegen und Rückschlägen besteht. An einer Stelle macht sie das besonders deutlich:

„Als Ma schrie, „Das ist, weil du keine richtige Chinesin bist. Familie ist dir egal!“, hielt ich mich für den schlechtesten Menschen der Welt. (…) Ich konnte ihr nicht sagen, dass diese zwei Sätze das Schlimmste waren, was sie mir vorwerfen konnte. Dass ich mich in diesem Moment fühlte, als hätte ich versagt, ganz egal, was ich vorher geschafft hatte und worauf ich stolz war. Dass ich mich jahrelang bemüht hatte, nach allen Regeln zu spielen, mich zu verbeugen, wenn ich mich verbeugen sollte, zu essen, was andere glücklich machte, zu sagen, was sie gern hörten, und zu verschweigen, was ihnen wehtun konnte.“

Mit dem Aufzeigen der Struggles von „Migra-Kids“, die sich irgendwo zwischen schuldbewusster Dankbarkeit, Pflichtgefühl und verkrampfter Zugehörigkeit bewegen („Du hast so viel getan, damit ich mir erlauben kann zu träumen“), der Struggles familiärer Fernbeziehungen („Wir sind dabei, aber immer viel zu weit weg“) und der Struggles von Migra-Eltern, für die Migration oft der ewige Kampf zwischen der Erfüllung individueller Träume und persönlicher Zerrissenheit bedeutet, ist Lin Hierse mit „Wovon wir träumen“ vor allem eins gelungen: Einen berührenden Familienroman zu schreiben, in dem sie die Zwischenräume nicht nur akzeptiert, sondern feiert.

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