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Roskilde Festival Luftbild

Stiig Hougesen / SH Luftfoto

Ein Wochenende beim Roskilde Festival in Dänemark

Bei der 50. Ausgabe vom Roskilde Festival bleibt das Handy in der Hosentasche. Das Protokoll des Erlebten in Bildunterschriftenform.

Von Susi Ondrušová

Neben dem Glastonbury Festival in England, von dem vor kurzem erst Cid Rim hier berichtet hat, gehört auch das Roskilde Festival in Dänemark zu einem der bekanntesten und besten Festivals Europas.

Mit 130.000 Besucher*innen hat das dänische Festival eine geringere Besucher*innen-Kapazität als zum Beispiel das FM4 Frequency. Vergleiche mit dem seit 1971 bestehenden Festival sind allerdings schwierig, denn in der europäischen Festivallandschaft ist Roskilde ein Unikat. Als Non-Profit-Festival werden alle Erlöse am Ende des Jahres an verschiedene karitative Organisationen gespendet. Auch die Organisationsstruktur ist in dieser Größenordnung einzigartig: viele der Aufgaben werden nämlich von Freiwilligen übernommen. Rund 15.000 „Volunteers“ sind heuer am Festival im Einsatz gewesen und haben ihre Arbeitszeit gegen Ticketpass und Verpflegung eingetauscht. Vom Bühnenab- und Aufbau, dem Bändercheck an den diversen Eingängen bis zum Nachfüllen von Toilettenpapier auf den Wassertoiletten am Gelände. Manche Volunteers sind seit mehreren Dekaden im Team, andere waren als Kinder mit ihren Eltern schon hier und freuen sich nun über die günstige Alternative, Acts wie Dua Lipa oder Tyler, The Creator zu sehen. Jede*r einzelne Volunteer ist ein Zahnrad im Event-Getriebe, ein wichtiger Teil der Erfolgsstory dieses Festivals.

„Have a good festival!“ gehört jedenfalls zu den meistgehörten Redewendungen am Festival. Ob an der Bar nach dem Zahlen oder beim Bändercheck am Einlass.

Diese Woche hat die 50. Jubiläumsausgabe vom Roskilde stattgefunden - bekanntlich mit zweijähriger Verspätung.

Roskilde Festival Luftbild

Stiig Hougesen / SH Luftfoto

Nach dem großen Warten kommt das noch größere Staunen. Die Freude darüber, mit zehntausenden Besucher*innen vor einer Bühne zu stehen und die Lieblings-Acts zu feiern, ist unendlich groß, aber meine Wenigkeit hat eine Festivalroutine anscheinend vergessen, um nicht zu sagen „verlernt“: die obligatorischen Konzert-Schnappschüsse. Handy-Fotos, bei denen man glaubt, die beste Rock’n’Roll-Pose eingefangen zu haben, um später dann doch nur einen Lichtstrahl auf dem Display zu entdecken. Oder verwackelte Handy-Videos, auf denen man eigentlich nur den mitsingenden Steh-Nachbarn hört. Mein Handy bleibt an diesem Wochenende aber in der Hosentasche. Nichts findet sich nach dem ersten Festivaltag darauf. Wie konnte das passieren? Was also, wenn mir als einziger „Ich war hier“-Beweis nur diese folgenden Bildunterschriften übrigbleiben? Von Bildern, die sich in mein Gedächtnis zwar eingebrannt haben, die aber sonst nicht in Pixel-Form existieren? Passt. Here we go!

Ich sehe Post Malone auf der Hauptbühne – der „Orange Stage“. Er trägt ein Gandalf-T-Shirt und seine Zähne blinken. Er hat quasi eine Ampel im Mund. Er ist ein Genie.

Ich sehe vier Teenager, die das erste Jahr als Volunteers im Einsatz sind und einen Anhänger voller riesiger Toilettenpapierrollen von Toilette zu Toilette schieben.

Ich sehe Männer an WC-Anlagen mit fließend Wasser, an minimalistischen Pee-Fences und Urinals vorbeilaufen. Einer lehnt mit dem Kopf an einen Baumstamm, mit einer Hand entleert er sich, mit der anderen Hand tippt er ins Handy.

Ich sehe um Baumstämme herum gebaute Holzbänke, die das nächtliche An-Den-Baum-Pinkeln verhindern sollen.

Ich sehe im Clean&Loud-Campingbereich - jener Zeltplatz-Zone, in der man sich zum Aufräumen verpflichtet, aber dafür der Nachtruhe abschwört - einen Besucher im Campingsessel ruhen. Er wird mir erzählen: „The festival is always going to be a bit dirty. No matter how clean you are trying to make it. You´re going to see dirty things, you´re going to hear dirty things, you´re going to feel dirty things!”

Roskilde Festival Luftbild

Stiig Hougesen / SH Luftfoto

Ich sehe in der Dream City – jenem Camping-Areal, bei dem schon Monate vor dem Festivalstart eine Art Vergnügungs-Zone entsteht – ein von Festivalbesucher*innen errichtetes Postamt. Ob ich eine Postkarte nach Hause verschicken möchte, werde ich gefragt.

Ich sehe Megan Thee Stallion, wie sie ihr „hot boys“ Publikum fragt „Are you with me?” und alle zu „My body my choice”-Chören animiert.

Ich sehe die Graffiti-Wand „Pussy Ass Peace“ von der dänischen Künstlerin Carolina Falkholt, die von einem sexuellen Übergriff am Roskilde Festival 2015 berichtet. Ich sehe keine Trigger-Warnung, aber jeden Tag immer größere Menschengruppen, die stehenbleiben, um den kleingeschriebenen Text oberhalb des großgeschriebenen „die rapists, just fucking die!“ zu lesen.

Ich sehe Phoebe Bridgers in ihrem schwarzen Kleid mit Skelett-Aufdruck, wie sie von ihrem Lieblingstweet erzählt: „One of the Gallagher brothers tweeted ‚Fuck Oasis‘!“

Ich sehe Tyler, The Creator auf einer Bühne mit Palmen- und Topfpflanzen-Deko-Design. Ich höre, wie er - sichtlich gerührt ob des Mitrap-Talentes des Publikums - verspricht, nun öfter nach Kopenhagen zu kommen.

Ich sehe in der Roskilde-Festival-App, dass es am Camping-Gelände einen See zum Angeln gibt.

Roskilde Festival Luftbild

Stiig Hougesen/SH Luftfoto

Ich sehe: die Festivalhymne 2022 ist schon wieder (immer noch) Seven Nation Army von den White Stripes. Bei fast jedem Konzert stimmen Teile des Publikums vor, während und nach dem erwarteten Konzert die berühmte „Da Da Da Da Daa Da“-Passage an.

Ich sehe eine junge Frau mit „Safety Crowd“-Jacke, die an Biffy-Clyro-Fans Gratis-Wasser verteilt.

Ich sehe einen Mann in mit silbernem Gaffatape zusammengeklebten Turnschuhen.

Ich sehe Sanne Stephansen, die beim Roskilde als „Head of Sustainability“ arbeitet. Sie erzählt, die Zukunft von Müll-Reduktion hieße „Circular Festival“. Zum Beispiel Vermietung von Zelten, Pavillons oder Matratzen, sodass Besucher*innen gar nicht die Möglichkeit hätten, ihr Camping-Equipment zurückzulassen, weil sie keines mitnehmen müssen.

Ich sehe so viele Menschen zum Bühnenzelt stürmen, wo TLC spielen, dass ich TLC gar nicht sehe.

Ich sehe eine junge Frau mit „Safety Crowd“-Jacke, die an Dua-Lipa-Fans in der ersten Reihe High-Fives verteilt.

Ich sehe „Safety Crowd“-Volunteers, wie sie für den Ernstfall üben: Fans aus der ersten Reihe am Hosenbund über die Absperrung heben. Mein Prepper-Hirn will mir einreden, ich sollte keine Röcke mit Gummizug mehr auf Festivals tragen.

Ich sehe eine gelbe Bade-Ente auf dem Dach der Hauptbühne. Das Maskottchen der „Orange Stage“.

Ich sehe H.E.R. in ihrem dekonstruierten Grunge-Hemdkleid, wie sie ihrem 17-jährigen Background-Sänger zum Solo applaudiert. Er trägt während dem Konzert einen Rucksack auf den Schultern. Er ist immer bereit.

Ich sehe, die „erste Reihe Mitte“-Grrrls beim Chvrches-Konzert tragen Glitzer-Makeup und singen jede Songzeile mit. Auch sie sind bereit.

Ich sehe St.Vincent, wie sie den Song „Cheerleader“ dem US Supreme Court widmet: „They try to take us back to the dark ages!”

Ich sehe Haim, wie sie einen Superfan aus der ersten Reihe auf die Bühne holen und mit ihr tanzen. Wir tanzen alle.

Roskilde Festival Luftbild

Stiig Hougesen/SH Luftfoto

Ich sehe ein Waschbecken neben der Absperrung vor der Hauptbühne und fülle meine Wasserflasche auf.

Ich sehe den Strokes-Sänger Julian Casablancas mit 30minütiger Verspätung auf die Bühne torkeln. Der Headliner des letzten Festivaltages begrüßt das Publikum mit „I have a message for you: Don´t ever believe in yourself!“ Ich sehe, wie sich Menschenmassen von diesem Fail von einem Headliner entfernen. Ein betrunkener Frontman, der sich angewidert von den „Last Nite“-Rufen aus dem Publikum durch sein Set spielt, weil es in einem Vertrag steht; der auch seinen Kommentar zur Klimakrise nicht für sich behalten kann: „We´re gonna be fine because I had a vegan burger!“

Ich sehe Lichter im Food Court und entdecke, dass neben jeder Speise der Carbon Footprint der Mahlzeit aufgelistet ist.

Ich sehe vegane Burger und Fahrradständer im Mondlicht.

Ich sehe eine Nacktschnecke auf der Innenseite meiner rechten Zeltplane und eine Nacktschnecke auf der linken Zeltplane, als ich die Augen aufmache, um den Snoozebutton zu drücken.

Ich sehe mich nächstes Jahr wiederkommen.

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