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Esel vor aufgelassenen Bunkern in Albanien

Paul Blenkhorn/Unsplash-Lizenz

Lea Ypis „Frei“ erzählt vom Aufwachsen im Umbruch

Lea Ypi ist im stalinistischen Albanien aufgewachsen und 11 Jahre alt, als das Regime zusammenbricht. Von einer Kindheit voll sozialistischer Diktatur ging es direkt in den Turbokapitalismus. Viele nannten das „Freiheit“. Aber sieht so die Freiheit wirklich aus? Lea Ypi versucht es, in ihrem autobiografischem Roman „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ herauszufinden.

Von Diana Köhler

Das Leben von Lea Ypi hört sich an wie ein Film. Geboren wurde sie 1979 im sozialistischen Albanien, unter dem Diktator Enver Hoxha oder „Onkel Enver“, wie sie ihn nennt. Das Albanien unter Hoxha ist der letzte stalinistische Außenposten Europas, isoliert und abgeriegelt. Man kommt als Ausländer*in schwer hinein und als Albaner*in kaum heraus. Geheimpolizei und gegenseitiges Bespitzeln machen misstrauisch. Wer eine sogenannte „falsche Biografie“ hat, also nicht Mitglied der Partei und auf deren Linie ist, hat es im Leben schwer.

Für Lea Ypi aber ist diese Welt ihr zu Hause, sie kennt es nicht anders. Als das Regime 1990 zusammenbricht und sich diese Welt plötzlich schlagartig ändert, muss Lea alles hinterfragen, was sie bisher für richtig gehalten hat. Plötzlich kommen Dinge über „die Biografie“ ihrer Familie ans Licht, die ihre Eltern bisher vor ihr geheim gehalten hatten. Die Welt scheint jetzt offen, die Albaner*innen sind endlich frei. Die Euphorie ist groß, die Ernüchterung bitter: Massenauswanderung, Arbeitslosigkeit, Armut und Bürgerkrieg folgen.

Buchcover von Ley Ypis "Frei": Eine Rose steckt in einer Cola-Dose

Suhrkamp Verlag

„FREI“ ist beim Suhrkamp-Verlag erschienen, übersetzt hat es Eva Bonné.

„Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ ist aber kein schweres Geschichtsbuch, sondern schnell, witzig und ehrlich. Lea Ypi trifft genau den richtigen Ton, spricht aus kindlicher Perspektive, ohne dabei naiv zu wirken.

„Im Kapitalismus, sagte er, ist es nicht so, dass die Armen nicht dieselben Dinge tun dürfen, wie die Reichen. Es geht eher darum, dass sie es nicht können, selbst wenn sie das Recht haben. Beispielsweise dürfen sie in den Urlaub fahren, aber das geht nicht, weil sie Geld verdienen müssen. Und wer im Kapitalismus kein Geld hat, kann nicht in den Urlaub fahren. Deswegen braucht es eine Revolution. – Um in den Urlaub zu fahren? – Um die Zustände zu ändern.“

Lea Ypi fragt in ihrem Buch: Für wen gilt die Freiheit? Wer kann sich diese Freiheit herausnehmen und was passiert dabei mit der Freiheit von anderen? Wer profitiert und wer geht leer aus? Sie erzählt das Große im Kleinen, bietet Geschichte zum Angreifen und Begreifen, zieht feine Fäden und Verbindungen zwischen Fakten, Zahlen, großen Namen und selbst Erlebtem, Gefühlen, Empfinden. „Frei“ zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie die Umstände unseres Lebens unser politisches Bewusstsein formen. Wie wir Geschöpfe der gesellschaftlichen Verhältnisse sind, in denen wir leben. Für diese Verhältnisse können wir nichts, und doch formen sie wofür wir kämpfen und brennen.

Und letztendlich zeigt „Frei“ auch besonders auf, was schon der verstorbene Autor und Theoretiker Mark Fisher in seinem Buch „Capitalist Realism“ gezeigt hat: Die neoliberale, kapitalistische Ideologie ist in unserer Gesellschaft auf so perfide Weise verankert, dass wir uns kaum vorstellen können, dass es auch anders geht. Dass es eine Welt geben kann, abseits von Wachstum, Gewinnmaximierung, Ellbogen raus, Augen zu und durch. Lea Ypi ist keineswegs davon überzeugt, dass ein stalinistischer Überwachungsstaat eine geeignete Alternative zu diesem Leben ist. Aber sie macht Hoffnungauf Veränderung, und dass es nicht immer so bleiben muss.

„In gewisser Hinsicht hat sich ein Kreis geschlossen. Wenn man einmal erlebt hat, wie ein System sich verändert, ist es nicht so schwer zu glauben, dass es wieder passieren kann.“

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