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Boris Johnson

APA/AFP/Daniel LEAL

ROBERT ROTIFER

Bye bye oder doch nicht - Boris klebt sich fest

Die Tories wollen jetzt scheinbar wirklich ihren Buffo-Chef loswerden. Aber was bleibt über, wenn das schwarze Loch Boris Johnson sich einmal endlich selbst verschlingt?

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Ihr könnt nicht behaupten, ich würde es nicht respektieren, euer Recht, möglichst nichts über die britische Politik zu lesen – der größte Vorteil davon, heute nicht in Großbritannien zu leben, weit vor Essen oder Wetter - aber bei uns pulsiert wieder einmal ganz heftig jenes schwarze Loch namens Boris Johnson, das alle Aufmerksamkeit in sich hineinzieht, alle Energien verschlingt, vielleicht diesmal zum letzten Mal - wie oft haben wir das schon geglaubt? -, und ich kann mich seiner Saugkraft auch nicht ganz entziehen.

Beim Klicken von „Speichern & Veröffentlichen“ dieser Kolumne ist der schamloseste aller Sesselkleber, der erst vor vier Wochen eine Misstrauensabstimmung in seiner eigenen Fraktion nur mit Ächzen und Mühen gewann und dann erst recht so tat, als wäre das ein motivierender Arbeitsauftrag, jedenfalls immer noch im Amt.
Selbst wenn ihm schon das halbe Kabinett unter den Fingern zerronnen ist.

Und zwar - nach allem, was er sich sonst geleistet hat – nun ausgerechnet deshalb, weil er einen bisher eher unbekannten Tory namens Chris Pincher, der wegen sexueller Übergriffe auf junge Männer in seiner Umgebung amtsbekannt war, trotzdem in Ministerämter bzw. in die Position des „Government Chief Deputy Whip“ (typisch Englisch perverser Name für so eine Art stellvertretender Klub-Obmann) bestellt hatte.
Trotzdem oder gerade deswegen - intern bekannte Sündenfälle sorgen bekanntlich für erhöhte Loyalität.
Wobei Johnson wieder einmal behauptete, von Pinchers (dessen Name übersetzt tatsächlich „Grapscher“ heißt, kannst du nicht erfinden) Übergriffen nichts gewusst zu haben, bis die gegenteilige Wahrheit sich nicht mehr leugnen ließ.

Falls ihr jetzt mit eurem Elefantengedächtnis daherkommt und sagt, „Hatte ich nicht schon im September 2019, also noch vor seinem Wahlsieg, gelesen, dass Johnson selbst die Times-Journalistin Charlotte Edwardes begrapscht hatte, und wieso war das damals kein mindestens ebenso großes Thema?“, dann antworte ich darauf nur “SCHRRAAAWONGGG!!!“ und erkläre ein paar Absätze weiter unten, was das heißen soll.

Nachdem nun jedenfalls die in diversen Abwandlungen überlieferte, alte englische Binsenweisheit „Boris Johnson is not going to survive this one“ diesmal tatsächlich wahr werden könnte, muss ich auch das mir selber geleistete Gelübde brechen, ihm hier keine Bilder mehr zu gönnen (siehe oben, zum Abschied winkend). „Vielleicht diesmal zum letzten Mal!!!“ sag ich mir zum Trost, mit drei Rufzeichen, um die innere Skepsis zu übertönen.

A propos Übertönen: Wenn ihr schon jeden Scheiß aus dem Englischen ins Deutsche importiert, wie populär ist eigentlich der Ausdruck „kognitive Dissonanz“ („cognitive dissonance“)? Der gewinnt hier seit ein paar Jahren zurecht an Popularität, weil er so eloquent die vom willkürlichen Beharren auf logischen Widersprüchen innerhalb einer politischen Argumentation verursachten Kopfschmerzen beschreibt.

Wie in der Musik wird kognitive Dissonanz in der Orchestrierung öffentlicher Meinung bewusst und gezielt eingesetzt, bis die Ohren des Publikums sich daran gewöhnt und Gefallen gefunden haben.

Ein random Beispiel für einen argumentativen Cluster-Akkord, den sie uns in den letzten Wochen um die Ohren geworfen haben: Dass ein Staat Leute, die über den Ärmelkanal nach England geflüchtet sind, aus menschlichem Mitgefühl aber gegen ihren eigenen Willen nach Ruanda verschleppt. Nämlich zu ihrem eigenen Schutz und zur Bekämpfung des Schlepperwesens. Wer sich dieser Logik verweigert (bzw. der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der den ersten Ruanda-Flug vor drei Wochen verhindert hat), beweist, dass er kein Herz hat für jene armen Flüchtlinge, die sinnlos im Kanal sterben, weil sie irrtümlich annehmen, Großbritannien hätte ein Herz für sie. “SCHRRAAAWONGGG!!!“

Nach der x-ten Wiederholung können das alle schon so gut nachsummen, dass die britische Regierung auf Basis dieser kognitiven Kakophonie seine eigene British Bill of Rights beschließt, die es ermöglicht, künftig Entscheide des europäischen Gerichtshof einfach zu umgehen - “SCHRRAAAWWAAAWWWWONGGG!!!“ - und wer weiß, was davon ausgehend noch alles reingeht?

Ist jedenfalls tatsächlich schon über zwei Monate her, dass ich hier das letzte Mal über britische Politik geschrieben hab, genauer gesagt über die nordirischen Regionalwahlen, aus denen die linke, für irische Einheit eintretende Sinn Fein als neue Mehrheitspartei hervorging, ihr könnt euch dunkel dran erinnern.

Ich hatte euch damals, Anfang Mai, erklärt, dass die sogenannten Democratic Unionists, die die Wahl verloren hatten, nun unter Ausnützung des Power Sharing Agreement die Bildung einer neuen nordirischen Regionalversammlung und -Regierung blockierten, und dear reader, auch zwei Monate später ist das immer noch der letzte Stand. Und zwar durch Mithilfe von Johnsons Regierung in Westminster, die sich eigens zur Erfüllung der Wünsche der Democratic Unionists ein Gesetz zur Legitimierung des einseitigen Bruchs des erst 2019 unterzeichneten EU-Austrittsabkommens gebastelt hat. Aus Gründen der „Notwendigkeit“ („necessity“).

Das ist dann die Sorte destruktiver Move, die dazu führt, dass man auf der internationalen diplomatischen Plattform Twitter von der Irischen Botschaft im Land gemaßregelt und von der Chinesischen getrollt wird:

Was beide dieser Statements schwer widerlegbar offenlegen, ist die rechtliche Unmöglichkeit, aber auch die gefährliche Vorbildwirkung der britischen Position.
Einer Position, die das UK in einen Handelskrieg mit der EU zu treiben droht, und zwar genau jetzt, wo das Land gerade seine schlechteste Handelsbilanz seit Beginn aller Handelsbilanzen verzeichnet, mit der übelsten Wachstums-Prognose aller OECD-Länder. “SCHRRAAAWONGGG!!!“

Es ist indessen eigentlich schon amtlich, dass der von Johnson immer noch als seine persönliche Großtat verbuchte Brexit die britischen Werktätigen deutlich ärmer gemacht hat und machen wird. Und das inmitten der höchsten Inflation seit vier Jahrzehnen (hier noch höher als bei euch), während die Regierung und die Bank of England die Werktätigen zur Mäßigung bei ihren Lohnforderungen mahnen - und gleichzeitig das obere Limit für Bonuszahlungen im Finanzzentrum der Londoner City beseitigt werden soll (schon auch “SCHRRAAAWONGGG!!!“).

I could go on. And on and on.

Aber es ist alles im Endeffekt egal, denn statt sich mit diesen Dingen aufzuhalten, starrt wie gesagt alles gebannt auf das schwarze Loch und wartet darauf, dass es tut, was es noch nie getan hat, nämlich sich selbst zu verschlingen.

Okay, irgendwann wird das wohl wirklich passieren.

Aber wenn es passiert, wird die Welt nicht stillstehen, der rund um das Nordirland-Protokoll provozierte Rechtsfall mit der EU sich nicht von selbst lösen, das seit mehr als einem Jahrzehnt der Unterfinanzierung zerbröselnde britische Gesundheits- und Sozialsystem nicht von selbst wieder heilen. Die strukturelle Ungleichheit im Land wird nicht verschwinden, die wachsende relative wie absolute Armut bei gleichzeitiger Vollbeschäftigung (ein sträflich übergangenes Alarmzeichen) bloß noch schlimmer werden, und eine neulich mit auf überraschend viel öffentliche Sympathie gestoßenen Großstreiks der Bahnarbeiter*innen angebrochene Welle kommender Proteste ganz sicher nicht verebben.

Selbst wenn die Regierungspartei sich in den nächsten Wochen ein neues, scheinbar unbeschädigtes Gesicht sucht und mit Unterstützung des Medienkonsens als neue Lichtgestalt präsentiert, könnte es doch sein, dass die Abwesenheit des schwarzen Lochs namens Boris Johnson sie nicht rettet, so wie manche rebellierende Tories sich das jetzt vielleicht vorstellen, sondern im Gegenteil all das sichtbar macht, was bisher hinter dem endlosen Schauspiel seiner Selbsterhaltung untergegangen war.

Und dann könnte er hier erst richtig losgehen, der lange angekündigte, heiße „Summer of Discontent“.

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