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APA/AFP/Hollie Adams

robert rotifer

„Wie konnten Sie so irren?“

Letzter Gruß, bevor ich mich in den stundenlangen Stau an der britischen Küste stelle. Es gibt kein Entkommen, weder von der Insel, noch vor der bizarren Parallelwelt, die von den britischen Medien rund um den Kampf um Boris Johnsons Nachfolge aufgezogen wird.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Wenn euch diese Zeilen erreichen, hab ich mich dem Realzeit-Experiment unterzogen. Ich war gewarnt, die Artikel auf den Titelseiten, sieben Stunden Wartezeit in Dover an der Fähre, ehe dann gestern, Sonntag, die Zufahrt zum Eurotunnel in Folkestone zum „hotspot of holiday hell“ erklärt wurde. Genau in diese Hölle werd ich mich hineingeworfen haben, wenn ihr das hier lest.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Aber was sollst du machen, irgendwie wollte ich das Wiener Popfest kommendes Wochenende halt nicht verpassen, und nachdem ich’s schon nicht zum Pressetermin voriges Monat nach Wien geschafft hatte, weil sie mir zehn Minuten vor der angekündigter Öffnung des Gates in Heathrow den Flug einfach ohne Angabe von Gründen abgeblasen hatten, konnte ich das nicht wieder riskieren.

Das ist ja sowieso die Sache: Wir sollten alle nicht fliegen. Gar nicht. Das ist eine der Lektionen, die ich mitgenommen hab, vom Erlebnis der rund vierzig Grad, die’s hier auf der Insel Anfang der Woche hatte. Eine Temperatur, die in unserer geographischen Lage ganz links oben im europäischen Nordwesten theoretisch unmöglich sein sollte, und die sich auch durch die pinkeste Spiegelbrille nicht mehr als Laune der Natur erklären ließ.

Während sich noch diese Rekordtemperaturen ankündigten, flüchteten die britischen Nachrichtenmedien und mit ihnen der politische Diskurs umso tiefer in jene bizarre Parallelwelt, die sie bewohnen, seit der blonde Buffo seine ausgedehnte Abdankung angekündigt hat.

Ich spreche vom monatelangen Prozess der Auswahl eines/r neuen britischen Regierungschef*in, in Diskussionsduellen und Fachleutegesprächen zelebriert, so als gäbe es eine öffentliche Wahl. Tatsächlich aber ist die sehr beschränkt, einerseits auf die enge Klientel der konservativen Parlamentsabgeordneten, die Tag um Tag in Wahlgang um Wahlgang Kandidat*innen eliminierten, bis nur mehr zwei – Außenministerin Liz Truss und der Anfang Juli zurückgetretene Schatzkanzler Rishi Sunak – übrig blieben, von denen nun mittels postalischer Abstimmung durch rund 200.000 konservative Parteimitglieder eine*r ausgewählt wird.

Mit anderen Worten: Die Argumente, die der Öffentlichkeit präsentiert werden, sind dazu gemacht, eine kleine Minderheit zu überzeugen, die eine sehr, sehr eigene Perspektive der politischen Realität vereint. Mit dem Resultat, dass die Medien, die diesen Wahlkampf kommunizieren, sich mit in eine verzerrte Welt versetzen werden.

Wo man leidenschaftlich darum kämpft, wer das reinere Erbe Margaret Thatchers vertritt, wo Umweltsteuern und klimapolitische Grundziele wie die ohnehin nicht ernsthaft angestrebte und dazu noch unzureichende CO2-Neutralität Großbritanniens bis 2050 in Frage gestellt werden, während die einst grüne, von der Sonne zu strohigem Zunder aufgebackene Landschaft brennt. Wo das Gesundheitssystem derart darnieder liegt, dass vor den verstopften Notaufnahmen der Spitäler Englands routinemäßig dutzende Rettungswägen anstehen und Stunden auf Versorgung ihrer Patient*innen warten. Wo diese Patient*innen in ihren wartenden Rettungswägen sterben, oder zuhause, während sie auf eine Rettung warten, die niemals kommt. Wo so ein Zusammenbrechen der grundlegendsten Funktionen eines Staats in den Nachrichten weniger Thema ist als die Nuancen, die die Fantasiewelten der konservativen Kandidat*innen von einander trennen.

Wo ein voll und ganz auf Austerität eingeschossener Neoliberaler wie Sunak als Kandidat des „linken“ Flügels seiner Partei durchgeht, während Liz Truss die Rechte mit dem Versprechen hofiert, mehr in Großbritannien gelandete Asylsuchende nach Afrika zu verschleppen denn je zuvor. Wo angesichts der steigenden Inflation knapp die Hälfte der Bevölkerung in relative bis absolute Armut zu schlittern droht und letztere Kandidatin als Lösung dafür ein diffuses Programm nicht näher definierter Steuersenkungen anbietet, die automatisch zu einem Boom führen sollen, der dann somehow magisch die Teuerung stoppen soll. Man muss sich immer nur vorstellen, was passierte, wenn das jemand von der anderen, also Labours Seite behaupten würde, aber Truss beruft sich in ihrer Theorie auf Thatchers einst liebsten Ökonomen, den exzentrischen Patrick Minford, der schon vor vier Jahren die Bereitschaft geäußert hatte, seiner extremistischen „Free Trade“-Vision des Brexit Großbritanniens herstellende Industrie zu opfern.

Man könnte meinen, für die Medien wäre all das eine Gelegenheit, zumindest die Mitverantwortung der beiden Kandidat*innen dafür, was in der Ära Johnson passiert ist, zu begutachten, schließlich saßen sie beide in Schlüsselpositionen seines Kabinetts. Aber dann sitzt du vor dem Radio und hörst, wie der Moderator Nick Robinson Liz Truss interviewt und ihr dabei als große Enthüllung früherer Sünden ausgerechnet einen Ausschnitt einer ihrer Reden in der Kampagne zum Brexit-Referendum von 2016 vorspielt, bei der sie die damals offizielle Regierungslinie (pro „Remain“) vertrat und warnte, dass es nach einem Austritt aus dem EU-Binnenmarkt „weniger Handel mit dem Ausland und weniger Investitionen“ geben würde.

„Wie konnten Sie so irren?“, fragt Robinson heute. Obwohl er wissen muss, dass GENAU DAS, was Truss damals angekündigt hat, inzwischen eingetreten ist, gerade diese Rede also DAS EINE MAL war, wo sie mit einer ihrer Voraussagen recht behielt.

Aber diese Fakten spielen hier keine Rolle. Einzig das, was gemäß den konservativen Glaubensgrundsätzen wahr sein darf, zählt in diesem Machtkampf. Und so gesteht Truss live on air einen Fehler ein, der keiner war, stellt dem aber die Behauptung entgegen, dass sie seit ihrer Konvertierung zur reinen Brexit-Lehre besonders gut im „Erledigen von Dingen“ gewesen sei („I get things done“).

In Wahrheit ist Truss Ko-Architektin von Großbritanniens einseitigem Bruch des mit der EU ausverhandelten Nordirland-Protokolls, der dazu geführt hat, dass die EU rechtlich gegen Großbritannien vorgehen will. Dass dieses Land also genau zu Beginn der größten Wirtschaftskrise
seit dem Zweiten Weltkrieg einen Handelskrieg mit seinen nächsten Nachbarn riskiert.

Truss hat auch ein neues Handelsabkommen mit Australien und Neuseeland zu verantworten, das die britische Landwirtschaft der potenziell ruinösen Konkurrenz der Exporte von billigem, weil unter niedrigeren Standards produziertem Lammfleisch ausgesetzt wird.

Robinson könnte Truss dazu befragen, aber er tut es nicht. Weil diese Widersprüche in der kleinen Welt der Konservativen nicht existieren, nicht existieren dürfen.

Und so kommt es, dass ich morgen ein paar Stunden in der Schlange stehen werde, direkt verursacht von der Obsession der britischen Regierung mit der härtest möglichen Auslegung des Brexit-Votums, dem xenophoben Slogan „Take back control of our borders“, des immer wieder stolz verkündeten, mittlerweile selbst von Labour-Chef Keir Starmer beschworenen Endes der Freizügigkeit aka „Freedom of Movement“, die sich eben – man mag es kaum glauben – in beide Richtungen manifestiert.

Statt eine Lösung für ein Problem zu finden, das allerspätestens 2020 vorausgesagt und damals von der britischen Regierung einfach verleugnet wurde, schieben die Kandidat*innen die Schuld auf Frankreich und übertreffen sich gegenseitig in der Hardcore-Extremität ihrer anal-fixierten Grenzverschluss-Fantasien.

Tweet ist nicht mehr verfügbar.

Wie ihr sehen könnt, verbringe ich mehr Zeit, als gesund ist, auf Twitter, zumal – und das schmerzt mich als öffentlich-rechtlichen Journalisten zu sagen – der Konsum von traditionellen Nachrichtenquellen der BBC dieser Tage leider wirklich allzu sehr dieser Satire ähnelt.

So ergötze ich mich stattdessen eben an solchen Witzchen oder dem höflichen Aktionismus einer Gruppe wie Led By Donkeys (benannt nach einer berühmten Redensart aus dem Ersten Weltkrieg), obwohl ich sehr genau weiß, dass so zu tun, als würde das was ausrichten, den kollektiven Selbstbetrug eigentlich bloß noch schlimmer macht.

Und ich frage mich, was es mit der politischen Meinungsbildung in einem immer noch irgendwie demokratischen Land anstellt, wenn sein politischer Diskurs sich so weit von jeder Realität entfernt. Wenn Ursachen und Wirkungen nicht mehr zusammengehen, politische Handlungen und ihre Ergebnisse überhaupt nichts mehr mit deren Wahrnehmung und Analyse gemein haben. Dann wird nämlich buchstäblich alles möglich, sogar dass der noch nicht einmal aus der Downing Street ausgezogene Boris Johnson bereits wieder seine Rückkehr ausheckt.

Aber was soll’s, ich muss erst einmal den Weg unterm Kanal durch finden... Denkt inzwischen an mich, ich schick dann Fotos vom Stau.

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