FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Clara Luzia live beim Popfest 2022

© Franz Reiterer

Your disco needs you

Farce, Clara Luzia, Bipolar Feminin und viele mehr: Die Zeichen stehen auf Abriss beim dritten Popfest-Tag 2022.

Von Katharina Seidler

„Stellt euch vor, es finden wieder Konzerte statt, und keiner geht hin.“ Dies schreibt der deutsche Autor und Musiker Rocko Schamoni in seiner aktuellen Kolumne für den deutschen Rolling Stone. Er bezieht sich darin - ein bisschen überspitzt formuliert, aber eigentlich gar nicht so sehr - auf die derzeitige Situation für viele Konzertveranstalter*innen, nicht nur in Deutschland, nicht nur in Österreich. Dass das Publikum nach zweieinhalb Jahren, in denen das Draußen und die anderen Menschen eine Gefahr darstellten, noch nicht wieder aus dem Safe Space des eigenen Zuhauses zurückgekehrt ist, ist eine traurige Realität an vielen Abenden.

Dies betrifft nicht das Popfest, das sich auch an Tag 3 in seiner fast-wieder-normalen Edition 2022 gutgelaunt und bestbesucht am Karlsplatz präsentiert. Dass die gigantische Rundschau durch die österreichische Musikwelt den anderen Events und Infrastrukturen das Wasser abgräbt, die an den 361 Tagen des Jahres, an denen kein Popfest ist, das Werkel am Laufen halten, ist ein häufiger Vorwurf und eine berechtigte Frage an Gratis-Events wie auch den Wiener Kultursommer. Rocko Schamoni hat schon Recht: Veranstalter*innen zittern ob schleppender Vorverkäufe, die Algorithmen der Eventplaner in den Sozialen Medien sind nach zwei Jahren durch Tiervideos und Suchanfragen zur Pflanzenaufzucht umprogrammiert, Bands stehen nicht selten vor halbleeren Hallen. Man hat sich mit Netflix und Spotify auf dem Sofa zuhause ein wenig zu gemütlich arrangiert, um bei Schamonis Bild zu bleiben - nicht zu vergessen, dass die Pandemie ja keineswegs „vorbei“ ist, wie uns bisweilen suggeriert werden soll.

Und dennoch, und umso mehr: Nützen wir den Schwung, den uns ein herzerwärmendes Event wie das Popfest verleiht, und nehmen wir ihn in den Alltag mit. Niemand hat mehr Lust auf Streaming-Konzerte, aber selbst die werden langsam verschwinden, wenn die Strukturen rund um die ganze Livemusikwelt bröckeln. Your disco needs you.

Denn das ist klar: Nichts auf der Welt kann das Gefühl ersetzen, zwischen freundlichen, glücklichen Menschen zu stehen und gemeinsam die Hände in die Luft zu reißen. Etwa dann, wenn Clara Luzia mit ihrer Band ihre melancholisch-mutmachenden Indiepop-Hymnen in die untergehende Sonne singt. Schon mehrere Male ist Clara Luzia, die 2010 als allererster Act das allererste Popfest eröffnete, auf dieser Bühne im Karlskirchenteich gestanden; heute wirkt sie in großer, um eine zusätzliche Gitarristin und ein Blechbläserinnen-Duo erweiterter Bandbesetzung, gelöst wie nie.

„How to act righteously, when everything’s gotten so out of hand?“, fragt ihr größter Hit „Cosmic Bruise“, und die Antwort findet die Künstlerin in ihrer brandneuen Single „The Greatest Gift“, die sie sich selbst und uns allen als Trostsong für verzweifelte Zeiten angesichts der Weltenlage geschrieben hat. Am Ende wird die Erde uns alle überdauernd: „After all I know we’ll be outlived, and that is the greatest gift - we shall be overcome.“ Von irgendwoher fliegen auf einmal Seifenblasen in den Himmel.

Schon eine Stunde zuvor hatte Clara Luzia die Seebühne kurz betreten, und zwar als Gaststar bei Dives. Beim Popfest vor einigen Jahren fiel der prominente Opener Slot des Trios beinahe einem sintflutartigen Wolkenbruch zum Opfer; an diesem Abend verziehen sich die einzelnen Regenwölkchen bei den ersten Tönen der Band wie von Zauberhand. Die ausgiebigen Touren und die Liveroutine merkt man der Band gut an; Songvorboten auf das im Herbst erscheinende, nächste Dives-Album verweisen auf ein noch größeres Bekenntnis zu poppiger Eingängigkeit und kehren die vielleicht größte Stärke der Band, die unaufgeregte Eleganz, in Nummern wie „Comfort & Fun“ noch besser heraus. „Tomorrow“, eine Art Vorgängersong zu „Comfort & Fun“, bildet den krönenden Abschluss: „How can you feel, when your hearts are made of stone?“ Das sind sie hier nicht, zum Glück.

Die musikalischen Ecken und Kanten ihrer Anfangstage hat auch Veronika König alias Farce mit fortschreitender Karriere immer mehr zugunsten der ganz großen Gefühle hinter sich gelassen. Nicht minder ausgeklügelt produziert sind die weltumarmenden Songs ihres jüngsten, sagen wir, zweieinhalbten Albums „Not to regress“, das POP in Großbuchstaben buchstabiert. Universelle Zugänglichkeit und das gemeinsame Spüren sind für Farce ganz essentiell in ihrer Kunst; der Headliner Slot zum Abschluss der Seebühne stellt in dieser Hinsicht einen wichtigen Schritt in Richtung Welteroberung dar. Dementsprechend funkeln neue Hits wie das sommerliche „Mama Morgana“, ein Song über die Freude, jemandem nicht mehr begegnen zu müssen. Fröhlicher hat das Nimmerwiedersehen nie geklungen.

Die Zeichen stehen auf Abriss: Es ist ein Uhr früh und der Ella-Briggs-Saal, die neue Location des Popfests im hinteren Teil der TU, ist nichts weniger als eine Sauna. Vorne steht Bipolar Feminin, die österreichische Band der Stunde, die locker auch die Seebühne in ihren Bann gezogen hätte, und streckt zehn Mittelfinger in Richtung Patriarchat. „Mit euren Bärten seid ihr die Experten für alles / Mit euren Schwänzen überschreitet ihr all meine Grenzen”, heißt es etwa in „Süß lächelnd“, der Debütsingle des Quartetts aus Ebensee, später entlädt sich die Wut im Gedankenspiel: „Ich töte euch alle, ich bring euch alle um.“ Dabei sind Bipolar Feminin alles andere als nur ernst und wütend: Ihr DIY-Rock ist ebenso verspielt und lustig wie stürmisch und dringlich und mit Leni Ulrich hat die Band eine Frontfrau, wie sie sich eine Band nur wünschen kann. Diese Kunst kommt nicht vom Wollen oder Können, sondern vom Müssen. Die Luft brennt, und das ist gut so.

23.30, gleiches Ambiente: Lens Kühleitner alias Lan Rex bringt die zwei bisherigen EPs „Absatz1“ und „C“, beide erschienen auf Tender Matter, in Trio-Formation gemeinsam mit Lisa Grabner und Paul Wischer auf die Bühne. Dunkler Pop trifft hierbei auf tanzbaren Synth Wave, es wechseln traumverlorene Stimmparts und technoide Beats einander ab und lassen das ganze Konzert nach dem Prinzip Sustain-Release in Wellen an- und abschwellen.

Dass die Erlösung durch den Drop nicht immer, und nicht immer an der erwarteten Stelle eintritt, schärft die Aufmerksamkeit im Saal; eine gewisse Verweigerungshaltung als Stachel holt uns aus dem Komfort der Couch. Noch einmal Rocko Schamoni zum Abschluss: Wir brauchen die Speziellen, Merkwürdigen, Andersartigen, Besonderen, Dysfunktionalen, Unfähigen, Sperrigen, Unbestechlichen, Skeptischen, Widerborstigen, Nervigen, Bescheuerten. Wir brauchen ein Popfest und all die anderen Dinge auch.

mehr Popfest 2022:

Aktuell: