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Erich Moechel

EU-Katastrophenwarnsystem in Österreich stark verspätet

Zwei Monate nach Ende der Umsetzungsfrist der EU-Richtlinie ist aus dem zuständigen Staatssekretariat unter Florian Tursky (ÖVP) noch nicht einmal ein Zeithorizont für die Umsetzung zu erfahren.

Von Erich Moechel

Während sich quer durch Europa kommende Katastrophenszenarien immer klarer abzeichnen, wird dem Katastrophenwarnsystem „EU-Alert“ in Österreich offenbar keine Priorität eingeräumt. Zwei Monate nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die EU-Richtlinie hat das mittlerweile zuständige Staatssekretariat für Digitalisierung noch nicht einmal einen Entwurf vorgelegt.

Aktuell dazu in ORF 2

Das Konsumentenmagazin Konkret hat sich dazu die Umsetzung von NL-ALert in den Niederlanden näher angesehen, die EU-weit unter „Best Practice“ fällt. (23.8. 18:30 ORF2)

Am Beispiel Deutschlands zeigt sich, dass die eigentlichen Probleme erst bei der Umsetzung auftauchen. Laut einer Analyse des Thinktanks AG Kritis sind in Deutschland beim derzeitigen Stand nicht einmal die Hälfte aller Mobiltelefone durch einen solchen Alarm erreichbar.

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ETSI

Das ist die jüngste stabile Version der ETSI-Spezifikation für Cell Broadcast von 2019. Die erste Version stammt aus 2001. Das European Telecom Standards Institute normiert sämtliche technischen Abläufe und Anforderungen in den Mobilfunknetzen Europas, wobei die tatsächliche technische Arbeit im Rahmen des „Third Generation Partnership Projects“ (3GPP) passiert, das zur International Telecommunication Union (ITU) gehört. Diese Analyse der AG Kritis von DE-Alert ist nicht die einzige zum Thema, die von den Experten für kritische Infrastrukturen veröffentlicht wurde.

Die Funktionsweise des EU-Alarmsystems

Die Kernfunktion von Cell Broadcast ähnelt eher Radio oder TV als Mobilfunk, allerdings können die jeweiligen „Zielgruppen“ ad hoc geographisch genau ausgewählt werden. Dadurch werden nur die tatsächlich Gefährdeten alarmiert.

Die „Technische Richtlinie DE-Alert“ wurde bereits im Februar 2022 durch die deutsche Bundesnetzagentur veröffentlicht, die Umsetzung soll bis Ende Februar 2023 abgeschlossen sein. Dieses Datum wird aber nicht zu halten sein, denn bei den ersten Testserien kamen unerwartete technische Hürden zutage. Ein erster, deutschlandweiter Probelauf mittels DE-Alert war zum nächsten allgemeinen Warntag am 8. September 2022 geplant. Dieser Test wurde bereits auf Anfang Dezember verschoben, die Probleme betreffen nicht die Netzkonfigurationen der Mobilfunker. Zwei Monate nach Ende der Umsetzungsfrist der EU-Richtlinie ist aus dem zuständigen Staatssekretariat unter Florian Tursky (ÖVP) nichts zu erfahren, außer dass die Umsetzung in Arbeit sei. Die Schnittstellen für den Service „Cell Broadcast“, der all diesen Alarmsystemen zu Grunde liegt, sind seit 2001 in allen Mobilfunknetzen vorhanden.

Eine Cell-Broadcast-Alarm muss ohne Benutzerinteraktion auf dem Bildschirm erscheinen, auch wenn der Screen gesperrt ist. Der Service ähnelt zwar technisch SMS, lässt aber Texte bis zu 1.395 Zeichen zu, gleichzeitig ertönt ein standardisierter, lauter Alarmton. Das muss auch funktionieren, wenn das Handy stummgeschaltet ist. Zudem geht die Nachricht nicht an ein bestimmtes Endgerät, sondern an alle Mobiltelefone, die bei einem oder mehreren ausgewählten Funkmasten eingebucht sind. Es handelt sich also um ein Broadcast-System wie Radio oder TV, aber mit dem Unterschied, dass ad hoc entschieden werden kann, welches geographisch definierte „Publikum“ erreicht werden soll und welches eben nicht, um eine allgemeine Panik zu vermeiden.

Grafik: Warnsystem über das Mobilfunknetz

DTAG

Diese Grafik der Deutschen Telekom AG zur Funktionsweise von Cell Broadcast, wurde direkt nach der Hochwasserkatastrophe in Nordrhein-Westfalen mit rund 200 Toten im Sommer 2021 veröffentlicht. Die meisten Menschen waren im Schlaf überrascht worden, denn in den betroffenen Gebiet hatten nicht einmal die Sirenen funktioniert. Der Bildausschnitt zeigt vier Funkzellen verschiedener Mobilfunkbetreiber, über die alle im Wirkungsbereich einer drohenden Hochwasserkatastrophe befindlichen Mobiltelefone erreicht werden sollen.

Was bei DE-Alert (nicht) funktioniert

In Griechenland wurde Cell Broadcast vor allem zur Warnung vor Waldbränden schon 2019 eingeführt. Die Zahl der Todesfälle hat sich seitdem stark reduziert.

Aus der Analyse der AG Kritis geht die Problemlage klar hervor. Das größte Problem sind die beiden dominierenden Betriebssysteme. Auf iPhones wird Cell Broadcast frühestens ab Version iOS 16 funktionieren, die für den Herbst angekündigt wurde. Auf Android-Systemen von Google funktioniert die deutsche Implementation ab Version 11, ältere Android-Versionen müssen vom Besitzer des Smartphones manuell konfiguriert werden, laut AG Kritis eine sehr umständliche Angelegenheit. Dasselbe gilt für die verschiedenen Android-Versionen der Smartphone-Hersteller. In diesem Fall sind es also die Betriebssysteme, die einer Benachrichtigung des Benutzers entgegenstehen, obwohl darunter, auf der Ebene des SIM-Card-Betriebssystems, alles funktionieren sollte.

Fast alles, denn zudem kommt noch die deutsche Gründlichkeit ins Spiel. Die EU-Richtlinie offeriert zahlreiche Optionen zur Definition von Nachrichten-Typen, also einen verbindlichen Rahmen, in dem nationale Behörden relativ frei agieren können. In Deutschland sind es laut Zählung der AG Kritis „16 Nachrichten-Typen, die sich je nach Alarmart, -reichweite und -sprache unterscheiden“. Dazu kämen „verschiedene Stufen für die Wichtigkeit und Dringlichkeit der Warnung“, die durch vierstellige Message Identifier gekennzeichnet sind. Damit sind alle älteren Mobiltelefone ausgeschlossen, da sie nur mit dreistelligen IDs funktionieren.

Text

DE Alert

Die deutschen Behörden haben auf die Kritik bereits reagiert. Diese Passage kam am 10. August neu in den Verordnungstext. Die Warnungen der höchsten Alarmstufe müssen zusätzlich auch mit einem dreistelligen Header ausgesendet werden, den auch ältere Mobiltelefone interpretieren können.

Österreich mit Sicherheitsverspätung

Die EU-Richtlinie für Sicherheit in Informationsnetzen wurde 2019 elf Monate nach Ende der Umsetzungsfrist finalisiert. Nur Rumänien brauchte noch länger.

Die deutschen Behörden haben also ein schlankes, zweckgerichtetes Alarmierungssystem zum Schutz der betroffenen Bevölkerung vor akut drohenden, regionalen Katastrophenlagen als hochkomplexes Katastropheninformationssystem umgesetzt, indem sie einfach alle optionalen Möglichkeiten und Kombinationen der EU-Richtlinie ins deutsche „Pflichtenheft“ übernommen haben. Damit steigt der Schulungsbedarf bei den beteiligten Behörden ebenso in lichte Höhen wie die Wahrscheinlichkeit von Fehlalarmen.

Aus Österreich ist derzeit nichts dergleichen zu vermelden, weil mit der Umsetzung bis dato offenbar noch nicht einmal begonnen wurde. „Es liegt somit weder an den Netzen, noch an den Betreibern oder Endgeräten, sondern einfach daran, dass wir ohne die technischen Details in der Verordnung keine Systeme beauftragen und implementieren können“, so Tom Tesch von Drei zu ORF.at. Auf wiederholte Anfragen von ORF.at, ZiB2 und Konkret (ORF 2) konnte das Staatssekretariat unter Florian Tursky nicht einmal einen projektierten Zeitpunkt nennen, wann der erste Verordnungsentwurf fertig werden soll.

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