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Drei Männer warten auf ihre Termine in der Arbeiterkammer Wien. Szene aus der Doku "Für die Vielen - Die Arbeiterkammer Wien" von Constantin Wulff.

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Die Kinodoku über die AK Wien ist ein Must-see

Wie faszinierend ist bitte die Arbeiterkammer Wien? Und wie arg geht es in der Arbeitswelt zu. Regisseur Constantin Wulff zeigt in seiner neuen Kinodoku „Für die Vielen - Die Arbeiterkammer Wien“ den Alltag in einer österreichischen Institution und dokumentiert die Härte der heutigen Arbeitswelt.

Von Maria Motter

Ob es Orte gebe, an denen sie ihr Praktikum nicht machen dürfe, will eine Jugendliche mit Brackets wissen. Also ob sie etwa als Barkeeperin in einem Club arbeiten könne? Im Theater Akzent ist gerade eine Vorführung von „Pflichtpraktikum? So eine Show!“ zu Ende, der Publikumsraum ist voll junger Menschen und jetzt ist Zeit für ihre Fragen. Es gibt Bereiche, in denen Praktika ausgeschlossen sind, antwortet Christoph Klein, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten Direktor der Arbeiterkammer Wien. „Alles, was mit Pornografie zu tun hat, ist einmal sowieso ausgeschlossen. Alles, was mit gefährlichen Arbeitsstoffen zu tun hat, ist ausgeschlossen. Und Glücksspiel ist auch eine Ausnahme.“ Grundsätzlich muss das Jugendschutzgesetz beachtet werden, ergänzt Kleins Kollegin. Das ist eine von zahlreichen Antworten auf Fragen in der Kinodoku „Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien“. Es ist auch eine der wenigen Szenen des Films, die außerhalb des fünfstöckigen Kastens von Gebäude in der Prinz-Eugen-Straße stattfinden, wo die Arbeiterkammer Wien Ende der 1950er Jahre ihre Zentrale errichten ließ. Zuvor hatte man unter Protest des Bundesdenkmalamts das Rothschildpalais dort abgerissen und die Wandvertäfelungen im Dorotheum versteigert.

Diese architektonische Anekdote erfährt man nicht im Film. Regisseur Constantin Wulff ist dem Direct Cinema verpflichtet. Das heißt, er ist ein Beobachter, der seinem Publikum zutraut, sich selbst ein Bild zu machen. Wulff hat etwa zuletzt mit „Wie die Anderen“ schon eine so aufschlussreiche wie berührende Doku über die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tulln gedreht. In der Unaufgeregtheit und in allem Zurücknehmen des Regisseurs liegt auch diesmal wieder der Schlüssel zum Erfolg.

Szene aus der Doku "Für die Vielen - Die Arbeiterkammer Wien": Berater der Arbeiterkammer Wien und Gebärdensprache-Dolmetscherin.

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Die Arbeiterkammer ist die gesetzliche Interessensvertretung der Arbeiter*innen und Angestellten. Im Bild: Eine Dolmetscherin in Gebärdensprache bei einer Beratung in der Arbeiterkammer Wien.

Constantin Wulff hat zuerst einige Tage in der großen Empfangshalle des Gebäudes verbracht, ehe er mit seinem Team den Schritt hinter die Schalter wagte. Zwei Stunden dauert der Film und man schaut in so viele Gesichter und hört so viele Geschichten, dass man staunt. Die Realität am Bau und in der Zustellbranche, das Schicksal Schwangerer und auch älterer Angestellter erfährt man direkt von den Betroffenen.

Es sind ungezählte Fallgeschichten und Einblicke in Leben und Arbeitskämpfe, die hier in kurzen Szenen offenkundig werden. Am Ende kommt noch ein Tiefpunkt, der zugleich ein filmisches Highlight ist: Menschen geben zu Protokoll, wie sie in einer Werkstätte behandelt wurden und dass sie nicht entsprechend ihren geleisteten Stunden entlohnt worden sind. Sie haben Covid-19-Masken verpackt, durften nichts trinken und wurden unter Druck gesetzt, gibt eine junge Frau zu Protokoll.

Immer wieder gibt es den Wechsel in interne Sitzungen der AK-Angestellten, die gut unterhalten. Dieser Film ist ein klassisch gemachtes Porträt einer Institution und ein Must-see.

Zwei Arbeiter bei Beratungsgespräch in der AK Wien. Szene aus "Für die Vielen - Die Arbeiterkammer Wien" von Constantin Wulff.

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Juristische Beratung statt Rührseligkeit

Über 100 Jahre besteht der Apparat der Arbeiterkammer und diese Doku ist von enormer Brisanz. „Für die Vielen – die Arbeiterkammer Wien“ ist keine Elendsschau, es geht um den Status quo. Um überhaupt für ihre Arbeit Geld zu bekommen, müssen viele Menschen sich nach wie vor behaupten.

Tipp: Die digitale Bibliothek der AK

Eine Beraterin der Arbeiterkammer sagt einer Hilfesuchenden, sie könne sich das Dokument für die Vollmacht, sie bei Behörden und vor Gericht zu vertreten, natürlich noch in Ruhe durchlesen. Die Frau greift ohne Zögern zum Kuli. Das ist eines der vielen Details, die hier aus der Gegenwart, von der Arbeitswelt im 21. Jahrhundert erzählen.

Filmplakat zu "Für die Vielen - Die Arbeiterkammer Wien".

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„Das ist ja wurscht, ob der Arbeitgeber zornig wird oder nicht“, sagt eine Mitarbeiterin am Empfang einer Putzfrau, die fürchtet, Arbeit und Wohnung zu verlieren. „Es gibt das Recht.“ In einer anderen Szene, die im Parlament aufgenommen wurde, putzt der damalige Finanzminister Gernot Blümel sein Smartphone penibel mit einem Reinigungstuch. Da hat die Pandemie bereits das Land erreicht und das von der Arbeiterkammer mitunterstützte Modell der Kurzarbeit – in der Finanzkrise 2008 erstmals für 66.000 Menschen umgesetzt – wird erneut zum temporären Anker.

Constantin Wulffs Doku hatte auf der Berlinale Premiere und wurde dort vom internationalen Publikum mit Staunen verfolgt. Für die beste künstlerische Montage einer Doku wurde Dieter Pichler auf der Diagonale 2022 ausgezeichnet. „Für die Vielen - Die Arbeiterkammer Wien“ startet am 23. September in den Kinos.

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