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Liz Truss und Kwasi Kwarteng mit Bauhelmen und Schutzwesten

APA/AFP/POOL/DYLAN MARTINEZ

ROBERT ROTIFER

UK: Im Griff des Weltuntergangskults

Protokoll eines Akts ideologisch gesteuerter Selbstsabotage. Wie man in nur einer knappen Woche das sechstreichste Land der Welt ruiniert.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Eins ist klar, wir stehen erst am Anfang dieses Dramas, aber ich werde trotzdem einmal versuchen, dessen ersten Teil zusammenzufassen, solange die Dinge noch halbwegs überschaubar sind:

Der unaufhaltsame Lauf der Kalamitäten begann letzten Freitag im Unterhaus in Westminster. Es war die Stunde von Kwasi Kwarteng, dem neuen Schatzkanzler der Regierung von Liz Truss. De facto wollte er seine erste Budget-Rede abliefern, aber seine Zahlen davor nicht – wie bei Budgets verpflichtend – von den Statistiker*innen des Office for Budget Responsibility prüfen lassen (um internen Widerstand gegen seine radikalen Ideen zu vermeiden, hatte er Tage zuvor sogar Tom Scholar, den höchsten Beamten seines Ministeriums, kurzerhand rausgeworfen). Also nannte er seine Rede einen „fiscal event.“

Der britische Finanzminister Kwasi Kwarteng bei einem Fernsehinterview

APA/BBC/AFP/JEFF OVERS

Kwasi Kwarteng

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Ein „fiskales Ereignis“ sollte es allerdings werden. Eines, das innerhalb kürzester Zeit das ganze Kartenhaus der britischen Ex-Wohlstandsgesellschaft umzublasen drohte.

So wie Liz Truss ist Kwasi Kwarteng ja eigentlich ein leidenschaftlich marktgläubiger Fundamentalist, aber angesichts einer Energiepreiskrise, die – wie hier schon berichtet – von Pubs bis zu Altersheimen sämtliche Klein- und Mittelbetriebe zu ruinieren droht, musste er gegen alle seine Instinkte eine staatlich finanzierte Deckelung von Gas- und Strompreisen versprechen. Eine Notmaßnahme unvorhersehbaren Umfangs in Größenordnung hunderter Milliarden Pfund, die Kwarteng nicht etwa durch Besteuerung der Rekordprofite von Energiefirmen, sondern mit Staatsschulden finanzieren will.

Geschenke an die Reichsten

Das hielt Kwarteng aber nicht davon ab, gleich bei der ersten Gelegenheit auch noch zu verwirklichen, wovon er und seine rechtslibertären Freund*innen in einflussreichen Think Tanks wie dem Institute of Economic Affairs immer feucht geträumt hatten, wenn ihnen des Nachts ihre butterweichgeblätterten Ayn Rand-Romane aus den Händen fielen:

Er schaffte den von weniger als zwei Prozent der britischen Einkommensteuerzahler*innen bezahlten Höchstsatz von 45 Prozent einfach ab, genauso wie die gesetzliche Obergrenze für Bonuszahlungen in der Bankenbranche, des Weiteren sagte er eine von seinem Vorgänger geplante Erhöhung der Körperschaftssteuer ab, kurz: Er lieferte inmitten der anbrechenden, größten Lebenskostenkrise der Nachkriegszeit ein großes Geschenk an genau die, die es am wenigsten brauchten.

Die Ära der Umverteilung sei vorbei, sagte Kwarteng, während er so 45 Milliarden an Steuereinnahmen vom Tisch wischte. Das war „Trussonomics“, der vom Kreis rund um die neue Premierministerin versprochene Turbo-Thatcherismus, in ungebremster Aktion:

Wozu noch Sozialstaat, wenn die von Steuerlast befreiten Ultrareichen endlich die Taschen voll genug hätten, um mit ihrer ungezügelten unternehmerischen Energie jenes dynamische Wachstum zu erzeugen, das Kwarteng und Truss schon vor Jahren in ihrer rechtslibertären Fibel „Britannia Unchained“ prophezeit hatten.

„Das war das beste Budget, das ich je einen britischen Schatzkanzler abliefern hörte“, schrieb der begeisterte Chefredakteur des Sunday Telegraph Allister Heath, „Die Steuerkürzungen waren so riesig und so kühn, seine Sprache so außerordentlich, dass ich mich, während ich Kwasi Kwarteng lauschte, manchmal kneifen musste, um zu wissen, dass ich nicht träumte.“

Die Finanzmärkte reagieren

Das von Kwartengs Rede ebenso inspirierte Flirren der Graphen über die Bildschirme der City sollte Heaths Worte bald bestätigen, fatalerweise aber nur die zweite Hälfte davon. Das mit dem „besten Budget“ sahen ausgerechnet die von Kwarteng und Konsorten fetischisierten Finanzmärkte leider eher umgekehrt.

Hatte die Bank of England nicht gerade am Tag zuvor einen Verkauf von Schuldverschreibungen (gilts) und Staatsanleihen (bonds) in Höhe von 80 Milliarden Pfund angekündigt (als Signal eines Endes der „Quantitative Easing“-Politik) und die Leitzinsen erhöht, um die Inflation zu bremsen (und das Pfund in seinem Verfall gegen den US-Dollar zu stützen)? Zogen Kwartengs Steuersenkungen für Reiche und Superreiche nicht genau in die umgekehrte Richtung? Und wie zum Himmel sollte der Staat neben seinem Aufkommen für steigende Energiekosten noch all die Steuersenkungen finanzieren?

In Ermangelung glaubhafter Antworten auf solche Fragen rasselte das Pfund am Montag auf seinen historischen Tiefststand gegenüber dem US-Dollar, nur mehr knapp über der Parität. Das war bloß der Beginn einer Kettenreaktion.

Zinsen steigen stark

Als härtester Beweis der Unglaubwürdigkeit von Kwartengs Intervention überholte die ohnehin schon im Steigen begriffene Zinsrate für britische Staatsanleihen jene europäischer Dauer-Problemfälle wie Italien und Griechenland. In nur einem Tag stiegen die Zinsen auf die hunderten Milliarden, die der britische Staat sich borgen wird müssen, um mehr als zwei Prozentpunkte.

Die Bank of England konnte dem nicht länger zusehen: Man werde „nicht zögern“, die Leitzinsrate „soviel wie nötig zu erhöhen, um die Inflation“ (bzw. den Absturz des Pfunds/das Steigen der Zinsen für Staatsschulden) in den Griff zu kriegen, hieß es in ihrem ersten Statement.

Dabei bedeutete eine Absichtserklärung ohne konkrete Taten in Wahrheit doch genau das: ein offensichtliches Zögern.

Schließlich hatten die Märkte sich bereits eine sofortige, spontane Leitzinserhöhung erwartet. Warum die Bank of England das – zumindest kurzfristig – nicht tun wollte, erklärt sich aus einer speziellen Verwundbarkeit der britischen Wirtschaft.

Potentiell ruinös für Millionen

Ihr kennt doch alle die britischen Reihenhäuschen, Zeile um Zeile davon. Alle davon sind in privatem Eigentum, meistens eines einzelnen Privat-Haushalts, auch wenn sie – über Agenturen – von privat an privat vermietet werden. In Wahrheit gehören sie aber dem Finanzmarkt, denn so gut wie niemand kann sich die in den letzten drei Jahrzehnten in völlig absurde Höhe gestiegenen Preise dieser Häuschen leisten, ohne dafür eine Hypothek von mehreren hunderttausend Pfund aufzunehmen. Die Niedrigzinspolitk nach dem Crash von 2008 machte das leistbar und trieb so die – von Medien und Politik beharrlich positiv als Zeichen steigenden Wohlstands gelesene – Hauspreis-Inflation munter voran.

Reihenhäuser in englischer Stadt

CC0 via Pixabay

Wenn nun die Bank of England aus obigen Gründen die Zinsen - wie derzeit erwartet - noch dieses Jahr von 2,25 auf sechs Prozent erhöhen würde, dann übersetzt sich das für die Hypotheken der Hauseigentümer*innen in eine Erhöhung ihrer Zinsrückzahlungen auf das Zwei-zweidrittel-Fache. Für Millionen britischer Familien, die – remember – ohnehin schon mit sinkenden Reallöhnen bei rapide steigenden Lebenskosten zu raufen haben, ist das potenziell ruinös.

Viele von ihnen würden Hypothekenraten nicht mehr bezahlen können und wären gezwungen, ihre Häuser auf den Markt zu werfen. Jene, die ihre Häuser vermieten, würden wiederum die erhöhten Hypothekenkosten an ihre Mieter*innen weitergeben (der britische Mieterschutz ist so gut wie inexistent).

Als wäre das noch nicht Grund genug zur Panik, zogen gestern mehrere große Hypotheken-Anbieter ihre – auf niedrigeren Zinsen beruhenden – Produkte vom Markt zurück und stoppten damit auf Anhieb hunderte laufende Hausverkäufe. Ein guter Teil davon wird unter ins Unerschwingliche erhöhten Rückzahlungsraten nun wohl nicht stattfinden.

Vor dem Immobiliencrash

All das zusammen garantiert einen zwar lange überfälligen, im derzeitigen Klima aber katastrophalen Crash des zwischen 15 und 18 Prozent des britischen BIP ausmachenden Immobilienmarkts.

Ganz zu schweigen natürlich von denen existenziellen Problemen der Leute, die unter oben beschriebenen Bedingungen schlicht auf der Straße landen werden.

Soweit das Horrorszenario bis gestern Mittag, als die Bank of England sich mit noch einem weiteren Notfall konfrontiert sah. Der Vertrauensverlust in die britische Wirtschaft hatte bereits die Liquidität diverser Pensionsfonds angegriffen, nachdem von ihnen gehaltene Staatspapiere, die sie in Bares verwandeln wollten, an Wert verloren hatten. Also musste die Nationalbank ihren Staatsanleihenverkauf abblasen und im Gegenteil selbst Staatsanleihen im Wert von 65 Milliarden Pfund zurückkaufen, um das Zinsniveau auf dem Markt für Bonds und Gilts zu stabilisieren.

De facto eine Kehrtwendung zurück in Richtung Quantitative Easing, sprich inflationäres Fahrwasser. Vor allem aber eine brutale Entblößung der Tatsache, dass die Bank of England das Land vor der Politik der Regierung retten musste.

Und zu all dem gab es von jener Regierung nichts als Schweigen, ehe Liz Truss heute morgen eine Interview-Runde durch die britischen Regionalradiosender machte, in der sie roboterhaft und scheinbar völlig realitätsvergessen auf Linie blieb.

Hoffnung auf Einsicht und eine Umkehr jenes fiskalen Ereignisses, das so viel Schaden angerichtet hat, besteht fürs Erste also nicht, und das Unterhaus macht gerade Pause wegen der laufenden Parteitags-Saison. Nächste Woche findet der konservative Parteitag statt, ein internes Gemetzel scheint vorprogrammiert. In den Worten des linker Tendenzen gänzlich unverdächtigen Chef-Ökonomen von UBS Global Wealth Management Paul Donovan: „Investor*innen scheinen geneigt, die britische konservative Partei als einen Weltuntergangskult zu betrachten.“

Zumindest diese Sichtweise teilen die abgehobenen Finanziers mit der britischen Bevölkerung: In den Umfragen vom Mittwoch lag der Vorsprung der Labour Party auf die Tories bei 17 Prozent, heute bereits bei historischen 33 Prozent, die nächsten Wahlen stehen aber erst 2024 an.

Das wird Menschenleben kosten

In der Zwischenzeit sieht es so aus, als wollte die Regierung die gestiegenen Kosten ihrer Steuersenkungen für die Reichen mit Einsparungen bei den Ärmsten finanzieren. Chris Philp, Staatssekretär des Finanzministeriums (Treasury), hat bereits durchblicken lassen, dass Sozialhilfe nicht an die Inflationsrate angepasst werden könnte. Und das, nachdem bereits der internationale Währungsfonds die britische Regierung davor gewarnt hatte, mit ihren budgetären Maßnahmen die Ungleichheit der Gesellschaft zu erhöhen. Das lässt sich auch anders ausdrücken:

Das schier psychopathische Experiment jener neoliberalen Fundamentalist*innen, die derzeit dieses Land regieren (und lassen wir ihre engen persönlichen Verbindungen mit genau jenen Hedgefonds, die daran fabelhaft verdienen, einmal beiseite), wird Menschenleben kosten.

Und wenn es aufgehalten werden soll, wird man auch darüber reden müssen, wie die dahinter stehenden radikalen Fantasien von rechten Lobby-Gruppen wie dem Institute of Economic Affairs so tief in den britischen Mainstream vordringen konnten.

Am Ende dieses Wahns steht jedenfalls die ultimative Ironie: Sie liebten die Märkte, aber die Märkte liebten sie nicht zurück.

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