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Der WM Ball zur Fußball-WM Katar 2022

APA/EVA MANHART

ORF-Experte Karim El-Gawhary über das WM-Gastgeberland Katar

Am Sonntag, 20. November, startet die umstrittene Fußball-WM in Katar. ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary spricht im Interview über den bitteren Beigeschmack angesichts der Menschenrechts-Verletzungen im Gastgeberland; er sieht aber auch Hoffnungsschimmer für die Zukunft.

Von Melissa Erhardt

In den letzten Wochen und Monaten haben wir sehr viel gehört über die WM: Menschenrechtsverletzungen und Korruption waren da immer wieder Thema. Aber ein bisschen hat man das Gefühl: Wir reden zwar viel über Katar, wirklich viel wissen wir über das Land in Vorderasien aber eigentlich nicht. ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary ist derzeit noch im Getümmel der Weltklimakonferenz COP27 in Ägypten unterwegs; demnächst reist er mit seinem Team aber zur WM nach Katar. Im Interview hilft er uns dabei, das kleine Emirat etwas besser zu verstehen.

Radio FM4: Im Zuge der diesjährigen WM hören wir viel über Katar. Trotzdem habe ich irgendwie das Gefühl, wissen tun wir recht wenig. Kannst du uns vielleicht ein kleines Katar-Einmaleins geben? Was ist Katar für ein Land? Wie wird es regiert? Wie würdest du Gesellschaft und Leute beschreiben?

Karim El-Gawhary: Katar ist einer der Golfstaaten und unterscheidet sich eigentlich daher wenig von den Arabischen Emiraten oder Kuwait oder auch vom größeren Saudi Arabien. All diese Länder leben vom Öl und Gas und all diese Länder sind undemokratisch, autokratisch regiert. Katar selbst hat eine sehr widersprüchliche Bevölkerung.

10% der Bevölkerung sind Kataris, also ungefähr 300.000, und die haben das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Welt. 90% der Bevölkerung, also fast 3 Millionen, sind Arbeitsmigranten.

Man findet sie auf allen Ebenen, im Service, auf dem Bau, aber auch in anderen Dienstleistungen, wie zum Beispiel Ärzte oder eben andere Spezialisten, die das Land braucht.

Bei den Ausländern gibt es eine klare Abstufung zwischen den Arbeitern, die meistens aus Asien stammen, und den europäischen oder amerikanischen Spezialisten, die für viel Geld angestellt werden. Keiner von ihnen aber hat einen unendlichen Arbeitsvertrag und eine unendliche Duldung, sondern der Aufenthalt in Katar ist immer direkt mit dem Arbeitsvertrag verbunden. Das heißt, wir haben hier ein Land, in dem gleichzeitig die reichsten Menschen der Welt, nämlich die Kataris, auf die Ärmsten treffen, nämlich die Arbeiter aus Asien, die dann auch die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen.

Radio FM4: Du hast es jetzt schon angesprochen, Katar gilt als einer der reichsten Staaten der Welt. Du hast doch gesagt, es kommt vor allem durch Öl und Gas. Sind es die einzigen zwei gewinnbringenden Quellen, oder was spielt da sonst eine Rolle?

Karim El-Gawhari

Manfred Weis

Karim El-Gawhary leitet seit Mai 2004 das ORF-Büro in Kairo und betreut von dort den gesamten arabischen Raum. Er meldet sich als Auslandskorrespondent regelmäßig in den Nachrichtensendungen des ORF zu Wort.

Karim El-Gawhary: Katar hat eigentlich in den letzten vier Jahrzehnten eine unglaublich rapide Veränderung wirtschaftlich und gesellschaftlich durchgemacht, von einem der ärmsten Länder der Welt zu einem der reichsten. Und dieser Reichtum basiert tatsächlich auf diesen unglaublich riesigen Gasvorkommen. Das sind die größten der Welt. Laut Berechnungen haben die Kataris Gasreserven, die noch 600 Jahre andauern würden, würde die Welt dann immer noch in fossilen Energien arbeiten. Wir hoffen, das ist dann nicht mehr der Fall.

Gleichzeitig ist Katar an zahlreichen multinationalen Unternehmen maßgeblich beteiligt. Das ist sozusagen die Lebensversicherung des Landes, wenn es dann keine Nachfrage mehr nach Gas gibt.

Radio FM4: Bei der WM-Berichterstattung wird ja auch oft und sehr viel über die Situation der Gastarbeiter*innen im Land gesprochen. 90 % sind es, hast du schon gesagt. Und tatsächlich hätte die WM ohne deren Arbeitskraft gar nicht stattfinden können. Willst du vielleicht noch einmal ein bisschen darauf eingehen? Warum braucht Katar überhaupt so viele Gastarbeiter*innen? Woher kommen sie und unter welchen Bedingungen arbeiten sie?

Karim El-Gawhary: Das ist richtig, es waren die Arbeiter aus aus Asien im Wesentlichen, die diese Stadien alle gebaut haben und nicht nur die Stadien oder die gesamte Infrastruktur dieser Weltmeisterschaft, zum Beispiel auch eine neue U-Bahnlinie und Ähnliches. Ohne diese Arbeitskräfte wäre diese Infrastruktur nie zustande gekommen. Dazu muss man auch wissen, dass Katar zuvor kaum irgendeine nennenswerte Infrastruktur hatte, um tatsächlich irgendwelche internationalen Veranstaltungen oder Sportveranstaltungen auszurichten. Wie gesagt, die Arbeiter kommen meistens aus Asien, Südost-Asien, viele auch aus Pakistan, Indien, Bangladesch. Deren Arbeitsbedingungen sind und waren natürlich immer wieder Thema im Vorfeld der Weltmeisterschaft.

Dabei ging es zum einen um viele ungeklärte Todesfälle beim Bau der Stadien zum Beispiel, wobei derzeit tatsächlich sehr unterschiedliche Zahlen darüber kursieren, wie viel Arbeiter dann am Ende dabei ums Leben gekommen sind. Ein anderes großes Problem sind unbezahlte Löhne, die oft von den Mittelsmännern einbehalten werden. Auch die Wohnbedingungen, getrennt in Baracken, sind immer wieder ein großes Thema. Und eben gerade diese nicht gezahlten Löhne zum Beispiel waren immer ein großes Thema, das sogar zum Teil zu Protesten unter den Arbeitern im Land geführt hat, obwohl Streiks und Proteste eigentlich offiziell verboten sind.

Radio FM4: Das heißt, sie sind dann trotzdem auf die Straße gegangen, um zu demonstrieren?

Karim El-Gawhary: Das zeigt den Grad der Verzweiflung, den sie hatten, wenn sie es trotzdem machen.

Radio FM4: Wenn wir über die Situation der Gastarbeiter*innen sprechen, müssen wir auch gewissermaßen über das Kafala-System sprechen. Das wird nämlich oft als Grund für die schlechte Situation der Arbeiter*innen genannt. Kannst du uns erklären, was das Kafala-System genau ist?

FM4 Auf Laut zur WM in Katar

Boykott oder nicht? Das ist die zentrale Frage, die derzeit rund um die Fußball WM in Katar diskutiert wird. Seit die FIFA vor 10 Jahren die Fußball-WM 2022 an Katar vergeben hat, wird diese Entscheidung hart kritisiert. Angefangen von Korruptionshinweisen rund um die Vergabe, über die Menschenrechtslage, die Diskriminierung von queeren Personen, tausenden toten Arbeitsmigrant*innen bis hin zu klimatisierten Stadien in der Wüste.

  • Was bringt ein Boykott? Ruf an und diskutier mit bei FM4 Auf Laut mit Claus Pirschner, am 15.11.2022, ab 21 Uhr auf FM4 und im FM4 Player.

Karim El-Gawhary: Ja, das war ein System, in dem ein Einheimischer, also ein Katari, für einen Arbeiter garantieren muss. Häufig so, dass der Arbeiter dann dieser Person den Pass aushändigen muss und in diesem System eben vollkommen ausgeliefert ist. Man muss dazu sagen, dass die Kritik vor der WM dazu geführt hat, dass das Arbeitsrecht in Katar in den letzten Jahren reformiert worden ist und heute wohl eines der weiterführendsten in der Golfregion ist.

Das Kafala-System selbst wurde im August 2020 offiziell aufgehoben. Jetzt können Ausländer in Katar theoretisch ihren Arbeitsplatz frei wählen. Damit gibt es natürlich einen freieren Arbeitsmarkt und etwas weniger Ausbeutung der Arbeitskräfte. Aber der Teufel liegt hier tatsächlich noch im Detail und viele Dinge funktionieren hier hinten und vorne nicht und sie sind eben immer noch ausgeliefert. Es würde zum Beispiel auch ein Mindestlohn eingeführt, aber der wird als viel zu wenig angesehen und ist in seiner Höhe eigentlich eher peinlich für eines der reichsten Länder der Welt.

People gather for photos around the World Cup countdown clock in Doha ahead of the Qatar 2022 World Cup

ANDREJ ISAKOVIC / AFP

Radio FM4: Also würdest du sagen, das sind eher oberflächliche Veränderungen oder bewirken die schon auch tatsächlich etwas?

Karim El-Gawhary: Die Situation ist nicht schwarz-weiß. Es war natürlich ein System großer Ausbeutung. Die Kritik vor der WM und die WM haben dazu geführt, dass dieses System etwas aufgeweicht wurde, aber eben bei weitem nicht genug. Es ist kein Schwarz-Weiß-Thema, würde ich sagen.

Radio FM4: Vor ein paar Tagen hat ein kleiner Ausschnitt der ZDF Doku „Geheimsache Katar“ für viel Aufregung gesorgt. Einer der zehn offiziellen WM-Botschafter, Khalid Salman, hat dort vor laufender Kamera gesagt, Homosexualität sei haram und ein geistiger Schaden, also ein „damage in the mind“. Wie würdest du solche Aussagen gegenüber LGBTIQ-Gruppen und anderen Minderheiten einordnen?

Karim El-Gawhary: Naja, eigentlich als wenig überraschend. Wenn man Offizielle nicht nur in Katar, sondern vielen anderen arabischen Ländern, dieselbe Frage fragt, würde man wahrscheinlich eine ähnliche Antwort bekommen. Homosexualität ist einfach in den arabischen Ländern ein Tabuthema. In manchen Ländern ist sie gesetzlich unter Strafe gestellt. In anderen Ländern, wie zum Beispiel in Ägypten ist sie zwar nicht gesetzlich unter Strafe gestellt, aber es gibt immer wieder Razzien gegen Homosexuelle.

Also in dem Sinne: Ja, eine furchtbare Aussage, aber im Rahmen der weiteren arabischen Welt eigentlich überhaupt nichts „Besonderes“. Man kann nur hoffen, dass sich die Gesellschaft dann auch öffnen wird. Das kann man nur hoffen, dass die WM zum Teil auch dazu beiträgt und dass das dann danach passiert. Aber ich glaube, da muss die arabische Welt noch mit Siebenmeilenstiefeln voranschreiten, um da in dieser Frage vor allem gesellschaftlich auch voranzukommen.

Radio FM4: Apropos, was die Zukunft bringt: Katar erhofft sich durch die Austragung von Sportevents ja, sein Image zu verbessern. Das wird auch gern „Sports Washing“ genannt. Mit Blick auf die Fußball-WM hat man aber eher das Gefühl, dass das ein bisschen nach hinten losgeht. Ich schätze, dass da auch Soziale Medien vielleicht eine große Rolle spielen. Wie schätzt du das ein? Gehen die Pläne Katars auf?

Karim El-Gawhary: Ich glaube, diese Bilanz kann man euch erst ziehen, wenn die Weltmeisterschaft vorüber ist. Also im Moment, im Vorfeld, würde ich sagen: Ja, auf jeden Fall, diese Rechnung ist nicht aufgegangen, dieses Sports Washing. Aber wenn das sportliche Fest, diese WM selbst, beginnt und all die 100.000 Fans kommen und dann mehr über Sport und weniger über die Politik der Gastgeber gesprochen wird, muss man schauen, was dann am Ende das Bild sein wird.

Ich glaube, eine der interessanten Fragen ist wirklich auch, nicht nur sozusagen auf dieses Sports Washing ja oder nein zu schauen, sondern sich ein bisschen mehr darauf einzulassen und ein bisschen mehr auch die Grautöne zu sehen. Weil ich denke schon, einer der interessantesten Fragen rund um diese WM in Katar ist, wie diese Vorbereitung zur WM, diese Kritik zur Vorbereitung zur WM, die WM selbst, wenn sie dann mal passiert und wenn eben Fans aus aller Welt auf dieses kleine Land zukommen, wie sich die Gesellschaft in Katar dann selbst öffnet.

Man kann eigentlich nur hoffen, dass sich diese doch sehr konservative Gesellschaft dann noch ein bisschen mehr öffnet. Erste Anzeichen dafür gibt es.

Ich glaube, das ist für mich einer der interessantesten Fragen, wenn wir dann mit dem ORF-Team am Freitag tatsächlich nach Katar reisen.

Radio FM4: Vielleicht eine letzte Nachfrage: Wo siehst du zum Beispiel solche Anzeichen dafür, dass sich die Gesellschaft ein bisschen mehr öffnet?

Karim El-Gawhary: Zum Beispiel diese Geschichte mit dem Arbeitsrecht, glaube ich, ist eine sehr, sehr, sehr wichtige Geschichte. Ich glaube, dass das erst mal nicht so sehr politisch festmachen lässt, sondern dass es einfach eine Veränderung ist, die ein bisschen in den Köpfen der Leute stattfindet. Weil solche Themen wie Homosexualität, wo man die Gesellschaft ja dort abholen muss, wo sie ist. Und da finde ich, muss man ein bisschen genauer hinschauen, wie sich da tatsächlich auch langsam möglicherweise was verändert und wie tatsächlich die WM dazu eben beiträgt oder eben auch nicht beiträgt. Das finde ich eine der interessantesten Fragen überhaupt.

FM4 Auf Laut zur WM in Katar

Boykott oder nicht? Das ist die zentrale Frage, die derzeit rund um die Fußball WM in Katar diskutiert wird. Seit die FIFA vor 10 Jahren die Fußball-WM 2022 an Katar vergeben hat, wird diese Entscheidung hart kritisiert. Angefangen von Korruptionshinweisen rund um die Vergabe, über die Menschenrechtslage, die Diskriminierung von queeren Personen, tausenden toten Arbeitsmigrant*innen bis hin zu klimatisierten Stadien in der Wüste.

Was bringt ein Boykott? Ruf an und diskutier mit bei FM4 Auf Laut mit Claus Pirschner, am 15.11.2022, ab 21 Uhr auf FM4 und im FM4 Player.

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