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APA/AFP/POOL/Britta Pedersen

ROBERT ROTIFER

The Bird is the Word - Warum Twitters Tod ein demokratiepolitisches Desaster wäre.

13 Jahre nach meinem Erstkontakt mit dem Monster sehe ich nun dessen ausgedehntem Todeskampf zu. Twitter wird also zum Opfer des Geltungsdrangs und der törichten Allmachtsfantasien eines offensichtlich durchgeknallten Superreichen, und die Mehrzahl der Menschheit findet das offenbar nur gerecht. Ist es ja auch, aber gut sicher nicht.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Unter einem von mir öfter als gesund angeklickten, dauergeöffneten Tab meines Browsers herrscht nun schon seit einiger Zeit Weltuntergangsstimmung. Ihr wisst schon, welchen Tab ich meine.

Leute, die meine unregelmäßige Kolumne lesen, werden ja gemerkt haben, dass ich, um hier auch ein Eintauchen zwischen die Zeilen zu ermöglichen, meine Texte gern mit themenbezogenen Links zu Tweets verschiedenster Urheber*innen unterfüttere. Die Ereignisse der letzten Wochen lassen nun befürchten, dass sich weite Teile meines Kolumnen-Archivs hier bald in einen Friedhof der toten Links verwandeln könnte.

Ja, wir wissen eh: Er spielt nur mit uns, der unaussprechliche Ex-Popstar-Boyfriend und Batterie-Auto-Fabrikant, der sich aus beleidigtem Stolz die große Meinungsmaschine gekauft hat. Er mag es, kleine Nutzer*innen wie mich auf ihrem immer nur geborgten Spielplatz zappeln zu sehen, das findet er Hardcore.

Gleichzeitig orte ich andernorts, wo mein Avatar sich herumtreibt – ironischerweise vor allem auf dem noch weit größeren, nicht minder toxischen Netzwerk, dessen Eigentümer eh auch schon seit einiger Zeit den längst fälligen Kill seiner ebenfalls völlig verkommenen Hausmarke vorbereitet – reichlich Häme über den tiefen Fall der Twitterant*innen. Besonders von Seiten derer, die selbst nicht „auf Twitter“ sind, aber dafür umso genauer zu wissen meinen, warum dieser Tummelplatz narzisstischer Gockel den Untergang verdient.

Versucht wäre ich zu sagen, dass eine Twitter-Timeline entgegen gängiger Missverständnisse und Shitstorm-Klischees im Großen und Ganzen nur reflektiert, was man selbst draus macht. Und dass man der monströsen Seite des Mediums weitgehend entkommen kann, indem man Provokationen mit zermürbender Freundlichkeit begegnet oder vom stets unterschätzten Grundrecht zu schweigen Gebrauch macht. Andererseits ist mir schon klar, dass ich als weißer cis-Mann – abgesehen von den Genre-üblichen Generalanwürfen an weiße cis-Männer – ein ziemlich leichtes Leben auf dieser Plattform führe.

Wäre doch an der Zeit, einmal in aller Ehrlichkeit über meine Komplizenschaft mit der Krake zu reden, bestehend seit Juli 2009, angestiftet damals von meinem Freund Darren. Alles, was ich bis dahin von Twitter wusste, war die gänzlich unsympathische Prämisse, dass sich grundsätzlich alles, was man zu sagen hätte, in 140 Zeichen zusammenfassen ließe (bald widerlegt durch die Verdopplung auf 280 Zeichen vor einigen Jahren, gefolgt von der Erfindung des endlosen Threads).

In jenen Tagen war ich nicht einmal vierzig, hatte noch dunkles Haar, konnte die meisten Nächte durchschlafen, Großbritannien war noch in der EU und hatte eine Labour-Regierung. Aber wollen wir es nicht idealisieren, britische Soldat*innen standen im Irak und in Afghanistan, wir hatten gerade eine Finanzkrise hinter uns gebracht, mit öffentlichen Geldern das Bankensystem gerettet, und es begann sich abzuzeichnen, wer dafür bezahlen würde.

Über all diese Dinge schrieb ich auch auf diesen Seiten hier bei FM4, damals in weiß auf dunkelgrau, da gab es noch die Kommentar-Funktion unterhalb der Artikel, die bis in die späten Nullerjahre hinein Schauplatz eines regen Meinungsaustausches gewesen war – als einer der noch verhältnismäßig wenigen Orte im Netz, wo Leser*innen spontan und in einer Öffentlichkeit, die sie nicht selbst erschaffen mussten (der wichtige Unterschied zu den damals von Natur aus als Nischenpflanzen blühenden Blogs), ihren Senf abgeben konnten.

Gegen Ende des Jahrzehnts musste ich mich bereits damit abfinden, dass soziale Medien diese Feedback-Funktion übernommen hatten, bzw. dass meine Stories dort auf gleicher Ebene mit den Wortmeldungen der „Community“ bestehen mussten. Wir hatten bereits den Aufstieg und Fall von Myspace miterlebt, Facebook stand gerade am Höhepunkt seiner bald danach rapide schwindenden Verwendbarkeit.

Aus all dem hatte ich gelernt, dass man sich, um gelesen zu werden, auch selbst in dieses Getümmel werfen musste. Ich hörte also auf Darren, der mir erklärte, dass Twitter konziser und weniger katzenfotolastig sei als Facebook. 13 Jahre und zigtausende Tweets später habe ich rein zahlenmäßig wenig Erfolg vorzuweisen, mit meinen im Vergleich zu anderen Medienmenschen geradezu popeligen viertausendeinhundertundirgendwas Followers (waren schon einmal bisschen mehr, aber die Leute wandern ab, und seit Musks Personalabbau scheint die bröckelnde App Konten willkürlich selbsttätig zu entfolgen).

Das ist auch völlig in Ordnung so, schließlich spricht mein in komprimiertem, zwangssarkastischem und somit akut Missverständnis-gefährdetem Englisch die britische Politik und relativ obskure musikalische oder sonstige kulturelle Vorlieben kommentierender bzw. mit der pseudoverschämten Bewerbung meiner journalistischen und musikalischen Produkte beschäftigter Feed naturgemäß eine eng begrenzte Blase an.

Von befreundeten Menschen mit populäreren Accounts bzw. meinen seltenen Erfahrungen mit Ansätzen der Viralität her weiß ich außerdem, dass ab einer kritischen Masse von ungefähr 10.000 Followers bzw. 100 Likes die destruktive Armee der „reply guys“ in Aktion tritt, um einem die eigenen Witze zu erklären oder jene performativ misszuverstehen (für tweetende Frauen oder erkennbare Angehörige diskriminierter Gruppen liegt dieses Limit wohl niedriger).

Entgegen meiner eigenen Annahmen von vor dreizehn Jahren hat meine Ego-Massage und Selbst-Promotion aber nur sehr wenig damit zu tun, womit die Plattform in den letzten Jahren mein Leben und meine Arbeit bereichert hat.

Tatsächlich hab ich nämlich per Twitter einige meiner heute besten Freund*innen kennengelernt. Leute zum Beispiel wie den anderen, malenden Darren, der oben im Norden in Bolton wohnt, wo ich sonst nie hingefunden hätte. Wie ja auch überhaupt die viele, ungebremste Menschenwärme in der bubble sträflich unterschätzt wird, zumal sie im Gegensatz zur Toxizität logischerweise keine Schlagzeilen macht. Und die Niederschwelligkeit des Diskurses: Nach Jahren des gegenseitigen Abtastens auf meiner Timeline stehe ich in regelmäßigem direktem Kontakt mit Musiker*innen, Autor*innen, Aktivist*innen zwischen Berlin und New York, die ich „in real life“ kaum getroffen hätte (aber seither durchaus habe, was sich dann jeweils so anfühlte, als würden wir uns ewig kennen).

Vor allen Dingen aber versorgen mich all diese Leute mit wirklich wesentlichen Informationen, die mir beim Konsum klassischer Nachrichtenmedien glatt entgangen wären. Weiß schon, das klingt jetzt gefährlich nach den Worten eines auf gefährliche Abwege gekommenen älteren Onkels, der euch ganz im Vertrauen erzählt, er habe im Internet seine eigenen Recherchen angestellt und dabei die direkte Verbindung zwischen George Sörös, der Klimalüge, dem Covid-Mythos und Paul McCartneys Unfalltod im Jahre ’66 entdeckt.

Aber bedauerlicherweise hat dieser Onkel im ersten Teil seiner Analyse („Sie lügen uns an“, „Sie halten die ärgsten Dinge von uns fern“) ja nun auch nicht ganz unrecht.

Mir als Teil des Medienapparats sollte es jedenfalls auffallen, was jener in der Wahrnehmung seines Informationsauftrags alles auslässt. Gerade hier zwischen den journalistischen Tabus der Post-Brexit-Ära, wo das News-Management der BBC zunehmend an jenes der TASS in den 1980ern erinnert, bin ich als Twitter-Konsument den Nachrichten, die irgendwann einmal notgedrungen an die Oberfläche dringen, üblicherweise einige Stunden bis Wochen voraus.

Umso dankbarer bin ich daher für die erhellenden Tweets von so völlig unterschiedlichen Leuten wie Jo Maugham mit seinem Good Law Project, das sich zu einem vitalen Kontrollorgan einer korrupten politischen Szene entwickelt hat, der dem Zynismus des Home Office (Innenministeriums) trotzenden Fremdenrechtsexpertin Zoe Gardner, dem Bank of England-kritischen Anti-Austeritäts-Ökonom Richard Murphy, dem von den Post-Brexit-Checks frustrierten Lastwagenfahrer Ciaran the Euro Courier, der gegen den schleichenden Ausverkauf des britischen Gesundheitssystems kämpfenden Ärztin Dr Julia Grace Patterson, dem aufmerksamen Menschen- und EU-Rechtsexperten Steve Peers, der Black Lives Matter-Aktivistin Dr Ruby, der bei scharfem Gegenwind über den Kanal die Menschlichkeit verteidigenden Flüchtlingshilfe Care4Calais oder dem als Flüchtlingshelfer agierenden Jugendarbeiter Benny Hunter und so weiter. Und diese Liste würde - je nach vorherrschendem Thema - jede Woche anders aussehen.

Sie haben mir allesamt zu für meine Stories hier wichtigen Informationen verholfen, die ich aus den traditionellen britischen und sonstigen Medien, inklusive Guardian, nie oder nur verspätet erfahren hätte bzw. die oft auch nur wegen ihrer Twitter-Präsenz dort gelandet sind.

Ganz zu schweigen von Journalist*innen wie Nesrine Malik, Aditya Chakrabortty und Rachel Shabi den derzeit besten Kolumnist*innen des Guardian, der verlässlich hellsichtigen Kollegin Annette Dittert vom ARD, Jon Stone vom Independent, Ash Sarkar von den weniger dogmatischen Corbynistas Novara Media, May Bulman von Lighthouse Reports (Spezialgebiet Fremdenrecht), dem kratzbürstigen Blattkritiker Mic Wright, dem zum Neo-Blairisten abgeglittenen, aber immer noch scharfsinnigen Brexit-Höllenforscher Ian Dunt, Adam Bienkov und Peter Jukes von der Online-Zeitung Byline Times, FT-Politikchef Jim Pickard, oder dem als furchtlose Stimme linker Jüd*innen und Freund deeper Americana aller colors geschätzte Fabian Wolff, nicht zu vergessen die Musikjournalist*innenblase von Jon Savage über Jude Rogers oder Pete Paphides bis Andrew Male deren wertvolle Wortmeldungen weit über die Reichweite oder die engen Prioritäten ihrer Arbeitgeber*innen hinausgehen.

Hab jetzt sicher die Hälfte vergessen, ihr könnt ja auch einfach meine Follows durchschauen.

Man muss beileibe nicht mit dem Urteil all dieser Leute übereinstimmen, ist ja kein Fanclub, und natürlich gibt es Wege, kritisch herauszufiltern, was man für glaubhaft hält. Das ist schließlich mein Job, und meine wie immer gerechtfertigte Überzeugung, dass ich diesen halbwegs beherrsche, ist auch der Grund, warum ich genauso wenig an die Neunzigerfantasie des citizen journalist glaube wie an die des citizen Fliesenleger, um jetzt einmal zwei verantwortungsvolle Jobs zu vergleichen, die man sehr falsch machen kann, für die’s aber keine zwingend institutionelle Qualifikation gibt.

Also: Kann schon gut sein, dass ein Donald Trump ohne diese toxische Tribüne nicht Präsident werden hätte können, und fraglos könnten wir bald an den Punkt gelangt sein, wo Twitter zerbricht oder schlicht zu „hardcore“ wird, um es länger dort auszuhalten.

Selbstverständlich habe ich mir auch ein Mastodon-Konto angelegt, sowieso scheint das beileibe kein brauchbarer Ersatz zu sein, und wenn ihr mich je als alten Mann auf TikTok herumlungern sehen solltet, dürft ich mich anzeigen.

Aus all den obigen Gründen halte ich Twitter jedenfalls in der Welt, wie sie jetzt ist, für unverzichtbar und sein drohendes Ende für ein ernsthaftes demokratiepolitisches Desaster.

Mehr noch: Allein in der Tatsache, dass solche entscheidenden Dinge von den Launen eines Milliardärs abhängen, zeigt sich paradoxerweise gleichzeitig, wie notwendig die Existenz öffentlich-rechtlicher Medien in all ihrer Mangelhaftigkeit bleibt, und dass jene in ihrer derzeitigen Form längst nicht mehr ausreichen.

Was für ein unverzeihlich großes Versäumnis meiner Generation es doch war, sich blind den Tech Bros an die Brust zu werfen und keine internationale öffentlich-rechtliche Alternative zu diesen digitalen Medienriesen aufzubauen. Und ich rede hier nicht von Open Source-Projekten, sondern von tatsächlich öffentlich finanzierten Kommunikationsplattformen.

Ich fühle mich aber auch in ganz andere Zeiten, nämlich das Jahr 2000 zurückversetzt, als ich begann, als Host für die FM4-Website zu schreiben, und überrascht war, dass es tatsächlich, wie von der Redaktion zu Beginn unseres Experiments vorhergesagt, jede Menge Leute gab, die meine Geschichten kommentierten und sich darauf auch Antwort erwarteten.

Die Kommentar-Funktion gibt’s zwar nicht mehr, aber die Website schon. Und wenn sie nun (dank eurer Rundfunkbeiträge) tatsächlich länger überleben sollte als Myspace UND Twitter, dann sollte man daraus vielleicht langsam Lehren ziehen.

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