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Computer im Zelt von Adam Kalinin

Adam Kalinin / @force_resistance

Russischer Kriegsdienstverweigerer flieht in die Wildnis

Ein russischer Programmierer lebt seit zwei Monaten im Wald, um der Einberufung und dem Ukraine-Krieg zu entgehen. Abseits der Zivilisation versucht er den Winter im Zelt zu überstehen. Ein Survival-Training mit Büroalltag.

Von Paul Pant

Die zwei nützlichsten Werkzeuge in Adam Kalinins Leben sind zurzeit Motorsäge und Solarmodul. Mit Motorsäge und Axt fällt er Bäume, die er zu Brennholz und Brettern verarbeitet. Die Solarmodule laden die Autobatterien auf, die den Strom für sein Satellitenmodem und seinen Laptop liefern.

Untergetaucht

Adam ist in seinen 30ern und im Brotberuf Programmierer. Seit Ende September arbeitet er nicht mehr im komfortablen Stadtbüro, sondern in einem Zelt irgendwo in einem ausgedehnten südrussischen Waldgebiet. Weit weg von jeglicher Zivilisation, wie er sagt. Das Leben in der Wildnis und seine Survival-Erfahrungen dokumentiert er in einem Telegram-Blog. Der Name Adam Kalinin ist dabei sein Pseudonym, da sich der Russe vor den Behörden versteckt. Das Telefoninterview gab Adam nur unter der Bedingung, anonym bleiben zu können. Die überprüfbaren Angaben, die er macht, sind glaubwürdig.

Eine Satellitenschüssel im Baum

Adam Kalinin / @force_resistance

Seit der russische Präsident Wladimir Putin ein Gesetz mit härteren Strafen für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure in Kraft gesetzt hat, ist Adam sehr vorsichtig geworden. Wer bei der Mobilmachung oder im Kriegszustand Fahnenflucht begeht, kann nun mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden. Wer freiwillig in Kriegsgefangenschaft geht, dem drohen bis zu zehn Jahre Haft.

Das Telefoninterview mit Adam Kalinin wurde über einen Dolmetscher durchgeführt.

Für Adam war die Mobilmachung am 21. September 2022 der letzte Anstoß, ins Exil zu gehen. Als passionierter Wildcamper hatte er bereits Erfahrung mit dem Leben in der Natur. Unweit des Arbeitszelts mit Satellitenschüssel im Baum hat sich Adam sein Wohnlager eingerichtet. Mit Ofen, aufgeschichtetem Holzlager und einem Wohnzelt, das normalerweise fürs Eisfischen verwendet wird.

DIY-Hausbau

Neben der typischen Touristenausrüstung wie Rucksack, Campingkocher, Wanderbekleidung und Wanderschuhen hat Adam auch allerlei lebensnotwendige Werkzeuge mit in den Wald gebracht. Hier brauche man alles, was die Arbeit leichter macht, was Kräfte und Energie spart, erzählt Adam. Die Fortschritte beim winterfesten DIY-Hausbau sind zwar beeindruckend, aber doch bescheiden. Aus den selbstgeschnittenen Brettern ist sich zumindest ein Bett und eine kleine Küchenzeile ausgegangen.

Kochstelle im Zelt von Adam Kalinin

Adam Kalinin / @force_resistance

Zumindest um die Nahrungsmittel muss sich Adam nicht sorgen. Mit seiner Frau hat er sich ein ausgeklügeltes System ausgedacht. Seine Frau liefert haltbare Lebensmittel einmal im Monat zu einem Ort an einer Straße, der weit genug entfernt ist, aber noch gut zu Fuß erreichbar. Zu dem gut versteckten, großen Container geht Adam von Zeit zu Zeit hin, um seine Vorräte aufzufüllen. Wie in einem Supermarkt, sagt Adam.

Exodus & Braindrain aus Russland

Die Anzahl russischer Männer im wehrfähigen Alter, die sich der Einberufung entziehen wollen und auf der Flucht sind, kann man nur grob erfassen. Ein Hinweis, dass es nicht wenige sind, ist der Anstieg der Grenzübertritte nach der Mobilmachung. Viele Nachbarstaaten von Russland und ehemalige Sowjetrepubliken wie Armenien und Kirgisistan vermelden eine starke Zunahme russischer Einwanderer.

In Kasachstan wurden mehr als 400.000 Grenzübertritte seit dem 21. September registriert. Gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax erklärte die kasachische Ministerin für Arbeit und Sozialschutz, Tamara Duisenova, Ende November, dass sich noch immer etwa 100.000 Russ*innen dauerhaft in Kasachstan aufhalten. In Georgien zeigt sich ein ähnliches Bild. Dort haben sich dieses Jahr mindestens 112.000 russische Staatsbürger*innen dauerhaft niedergelassen.

Gegenüber der deutschen Nachrichtenagentur dpa sprachen nicht näher genannte „westliche Regierungsquellen“ von schätzungsweise 400.000 Russen, die ihrer Heimat dauerhaft den Rücken gekehrt hätten. Nicht erfasst sind darin die Menschen, die im eigenen Land untergetaucht sind, um der Einberufung zu entgehen. Laut dem britischen Militärgeheimdienst führt die massive Abwanderung bzw. Flucht zu einem spürbaren Braindrain. Denn vor allem Akademiker*innen und hochqualifizierte Fachkräfte, besonders aus dem IT- und Finanzwesen, verlassen Russland.

Ein selbstgebaute Bett im Zeltlager von Adam Kalinin

Adam Kalinin / @force_resistance

Für Adam Kalinin ist die Flucht ins Ausland derzeit noch keine Option. Er arbeitet für eine größere IT-Firma. Seine Aufgaben kann er auch im „Home Office“ im Wald erledigen. Natürlich sei es hier nicht so angenehm wie in der Stadt, sagt er. Aber im Prinzip könne er auch aus dem Wald ganz normal als Programmierer arbeiten.

Zelt mit Solarpaneele

Adam Kalinin / @force_resistance

Interview mit Adam Kalinin

Radio FM4: Wann haben sie beschlossen sich zu verstecken?

Adam Kalinin: Als die Mobilmachung verkündet wurde [am 21. September 2022, Anm.]. Ein paar Tage lang habe ich überlegt, was ich tun kann, um die Wahrscheinlichkeit, mobilisiert zu werden, zu verringern. Ich bin ein friedlicher Mensch und Pazifist. Mir ist jede Idee eines Krieges, Konflikts oder einer Aggression fremd. Seit meiner Schulzeit wollte ich den Militärdienst nicht antreten.

Radio FM4: Werden Sie auch im Winter im Wald bleiben?

Adam Kalinin: Ich plane, den Winter über zu bleiben. Weil es neben der Mobilmachung noch den Kriegszustand gibt. Anfangs dachte ich, dass ich nur einen Monat bleiben werde, dass sich die Situation wieder ändern wird. Es war wahrscheinlich naiv zu glauben, dass sich alles zum Guten wendet. Aber die Situation ist schlechter geworden.

Radio FM4: Wie sehen Ihre Familie, Freunde und Arbeitskolleg*innen Ihren Schritt, sich zu verstecken?

Adam Kalinin: Die Familie unterstützt mich. Sie verfolgen meinen Telegram-Kanal. Meine Kollegen wissen auch Bescheid. Schon am Anfang habe ich ihnen gesagt, wohin ich gehe und dass ich ab diesem Zeitpunkt im Wald arbeiten werde. Für ein paar Tage habe ich mir Urlaub genommen, weil ich ein bisschen meine Kräfte überschätzte habe und den Urlaub gebraucht habe, um mich hier einzurichten.

Es ist für mich überraschend, wie schnell sich alles in Hass verwandelt hat.

Radio FM4: Kennen sie andere Menschen, die sich vor der Mobilmachung verstecken?

Adam Kalinin: Ich weiß keinen, der wirklich in den Wald ging oder ähnliches. Natürlich kenne ich Menschen, die in Opposition zum Regime stehen und meine politischen Anschauungen teilen. Diese Menschen sind schon seit langem in Opposition, wahrscheinlich schon seit 2012, als die Wahlen gefälscht wurden. Meine Freunde, Bekannten und ich versuchten, das alles zu besprechen, zu verstehen, was passiert und wie es weiter gehen wird. Aber diesen Krieg konnten wir uns gar nicht vorstellen.

Radio FM4: Haben Sie Angst entdeckt und bestraft zu werden?

Adam Kalinin: Die Möglichkeit besteht natürlich. Aber ich habe eine viel größere Angst, eingezogen zu werden. Oder, sinnbildlich gesagt, in die Rohrmündung der staatlichen Maschinerie zu geraten. Dorthin möchte ich nicht, weil man dort alle Rechte und Möglichkeiten verliert. Ich habe großes Mitleid mit den Menschen, die mobilisiert wurden oder mit denen etwas Ähnliches passiert ist. Allem Anschein nach interessieren die niemanden dort. Ich bin überzeugt, dass das alles eine große Katastrophe für unser Land, für die Ukraine und für die ganze Welt ist.

Radio FM4: Hat der Krieg in Russland etwas verändert?

Adam Kalinin: Das ist eine schwierige Frage. Der Krieg hat sehr wenig verändert im Land. Bei den Menschen verstärkt er wahrscheinlich die Polarisierung, macht die Meinungen radikaler. Aber ich denke, im Prinzip hat sich nichts geändert. Schon seit mehr als zehn Jahren kämpft der Staat gegen unabhängige Organisationen, NGOs. Das wird mit jedem Tag brutaler. Alles, was die Weiterentwicklung der Gesellschaft und Lösung der sozialen Probleme zum Ziel hat, wird unterdrückt. Und es bleibt nur Propaganda.

Uns ist klar, dass dieser Mensch verrückt ist, dass er wegen seiner Macht verrückt geworden ist.

Radio FM4: Was macht die Propaganda mit den Menschen in Russland?

Adam Kalinin: Die Propagandamaschine hat seit einem Jahrzehnt den Boden für solche Ereignisse vorbereitet, sodass es vielen Menschen absolut egal ist, dass Kampfhandlungen mit einem Nachbarland im Gange sind - praktisch mit unseren Brüdern, sowohl in der Sprache als auch in der Kultur. Das ist für mich überraschend, wie schnell sich alles in Hass verwandelt hat. Ich finde es sehr traurig, dass diese Propaganda die Ukraine oder überhaupt andere Menschen als äußeren Feind bezeichnet.

Radio FM4: Wie erleben sie es, dass viele kritische Menschen Russland verlassen?

Adam Kalinin: Dieses Thema ist ziemlich groß. Was denke ich? Es tut mir sehr leid, dass so viele Menschen weggegangen sind. Es ist schade, dass qualifizierte Menschen weggehen, statt dieses Land zu entwickeln und das Leben hier zu verbessern. Ich verstehe sie, ich kann ihnen keinen Vorwurf machen. Es ist traurig, dass solche Sachen passieren. Ich hoffe natürlich, dass diese Massenrepressionen und das ganze Chaos irgendwann vorbei sein werden und es wieder bessere Tage geben wird.

Radio FM4: Wie zufrieden ist die Mehrheit der Russ*innen mit Wladimir Putin?

Adam Kalinin: Das ist eine sehr schwierige Frage für mich. Denn im Prinzip könnte man sagen, ich sitze seit langem in meiner Bubble. Mehr oder weniger alle Menschen, die ich kenne, mit denen ich seit langem im Kontakt bin, unterstützen Putin gar nicht. Uns ist klar, dass dieser Mensch verrückt ist, dass er wegen seiner Macht verrückt geworden ist. Er verwirklicht irgendwelche persönlichen Ziele.

Es muss nicht so sein, dass eine Person so lange im Amt ist. Putin ist nicht der Einzige. Es gibt mehrere Leute, die mit ihm verbunden sind. Sie haben auf die gleiche Weise mehrere Wirtschaftsbereiche im Land monopolisiert. Meiner Meinung nach wirkt sich diese Situation sehr negativ auf die Entwicklung des Landes und auf die Menschen aus. Es verhindert, dass Menschen ein normales Leben führen können.

Radio FM4: Wo wird die Unzufriedenheit mit Putin öffentlich sichtbar?

Adam Kalinin: Das ist schwer zu sagen. Mich überrascht zum Beispiel, dass die Erhöhung des Rentenalters sehr zurückhaltend wahrgenommen wird. Es gab einige Unruhen, einige Proteste, aber es war viel weniger, als ich erwartet habe. Viele Menschen, die Putin unterstützen, sind Pensionist*innen oder kurz vor der Pension. Ich wäre mit solch einer Entscheidung sehr unzufrieden. Aber es ist, wie es ist. Die Menschen sind nicht besonders aufgeregt.

Meine Freunde und Verwandten leben hier. Es fällt mir schwer, die Beziehungen völlig abzubrechen.

Radio FM4: Derzeit ist kein Ende des Krieges in Sicht? Was wollen Sie machen, wenn der Krieg noch viele Monate, vielleicht Jahre dauert?

Adam Kalinin: Mein Planungshorizont ist stark verengt, ich kann keine langfristigen Pläne haben. Die Notwendigkeit, mich um verschiedene Aspekte des täglichen Lebens zu kümmern, haben mir bis jetzt geholfen, mich davon abzulenken. Im Moment plane ich den Winter hier zu verbringen und dann, mal sehen.

Vielleicht werde ich aber auch mit meiner Frau in ein anderes Land auswandern. Bisher weiß ich nicht wohin und unter welchen Bedingungen. Eigentlich wünsche ich mir das nicht. Ehrlich gesagt, wünsche ich mir, dass sich hier doch alles noch zum Besseren wendet. Meine Freunde und Verwandten leben hier. Es fällt mir schwer, die Beziehungen völlig abzubrechen. Ich hoffe, dass die Situation besser wird. Ich glaube an das Beste.

Paul Pant, Radio FM4 (Text und Recherche), Paul Krisai, ORF-Korrespondent in Moskau (Redaktion), Elena Mikrina, Producerin ORF-Büro Moskau (Übersetzung)

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