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Cover Martin Kordic "Jahre mit Martha"

S. Fischer Verlag

Martin Kordić: „Jahre mit Martha“

Martin Kordić schafft mit seinem zweiten Roman „Jahre mit Martha“ gleichzeitig eine Coming-Of-Age, Liebes-, Beziehungs- und Entwicklungsgeschichte, einen Bildungs- und Klassengesellschaftsroman.

Von Zita Bereuter

„Was mich ausmachte, war nicht schwarz oder weiß. Ausländer und Deutscher, bosnischer Kroate und kroatischer Bosnier, Muschis und Schwänze, Straße und Universität, Gott und Krieg, kriminell und gesetzestrau, männlich und unmännlich, Schande und Ehre. Es gab alles gleichzeitig in meinem Leben. In mir selbst war immer alles gleichzeitig.“

Alles gleichzeitig ist auch der Roman „Jahre mit Martha“: Coming-Of-Age, Liebes-, Beziehungs-, Entwicklungsgeschichte, ein Bildungs- und Klassengesellschaftsroman. Rückblickend erzählt darin Željko Drazenko Kovačević seine Geschichte. „Meine Geschichte will ich erzählen, weil ich glaube, dass wir uns mehr Geschichten erzählen sollten über uns in diesem Land.“ Mittlerweile ist Željko in seinen Dreißigern, kann sein Leben und verschiedene Ereignisse reflektieren und erinnert sich an seine Jugend.

Mit fünfzehn wird er von allen Jimmy genannt und lebt mit seinen Eltern, dem älteren Bruder und der jüngeren Schwester in einer Zweizimmerwohnung in Ludwigshafen. Der Vater arbeitet auf Baustellen auf Montage und ist nur selten zu Hause, die Mutter putzt.
„Bei uns zu Hause gab es nur zwei Bücher: Die Bibel und Ganz unten von Günter Wallraff. Zusammen mit den Bedienungsanleitungen für Fernseher und Videorekorder standen sie bei uns im Wohnzimmerregal.“
Dass es auch anders sein kann, erkennt Jimmy, als er im Haus der Familie Gruber steht. Dem Haus, in dem seine Mutter putzt. Und dieser Haushalt hat eine Bibliothek.
„Hier lag der Unterschied.
Hier, in der Bibliothek der Grubers.
Nicht im Haus.
Nicht im Pool.
Nicht im Garten.
Nicht in einer Schwarzwälder Kirschtorte.
Es war dieser Raum.
Es war der Zugang zu diesem Raum.“

Vor Kurzem hat Jimmy Frau Gruber kennengelernt, die Chefiza seiner Mutter. Eine Professorin, gebildet, galant und souverän. Damit verkörpert sie seine Ideale. Frau Gruber wiederum ist von Jimmy fasziniert. Von seiner Neugierde, seiner Natürlichkeit, seinem Streben nach Wissen und Bildung. Die beiden freunden sich an und verlieben sich. Das - Überraschung - verläuft nicht problemlos, die Beziehung köchelt über Jahre vor sich hin. Aber die Beziehung der beiden ist nicht der einzige Handlungsstrang.

„Das ist nichts für Kinder wie uns“

Jimmy will studieren, und ihm ist klar, dass es für einen wie ihn, mit seiner Herkunft, nicht leicht ist. „Das ist nichts für Kinder wie uns“ meint sein Bruder. Jimmy glaubt an seine Vision: „Wir müssen besser sein. Wir müssen die Besten sein.“

Martin Kordić wurde 1983 in Celle geboren und wuchs in Mannheim auf. Er studierte in Hildesheim und Zagreb. Seit über zehn Jahren arbeitet er als Lektor in Buchverlagen.

In seinem mehrfach ausgezeichneten Debüt „Wie ich mir das Glück vorstelle“ erzählt Martin Kordić den Bosnienkrieg aus der Perspektive eines Kindes.

Mit Hilfe von Martha studiert er schließlich in München. Er kellnert im „Balkan Grill“ und lernt Alex Donelli kennen, den aufregendsten Literaturprofessor der Uni. „Donelli betrieb Boulevard-Wissenschaft, zuckersüß und belebend.“ Für Jimmy beginnt eine traumhafte Zeit: „Mit jedem Buch, das ich in jener Zeit las, fühlte es sich an, als würde ich mich weiter weglesen von meiner Herkunft, als könnte ich mich zu einem andere Menschen lesen, mich so sehr mit Geschichten anfüllen, dass die eigene keine Rolle mehr spielte.“

Aber einerseits kann man die eigene Herkunft nicht einfach so ablegen und andererseits kann so ein süßer Wissenschaftler auch nicht auf Dauer gesund sein. Und als er sein Studium endlich beendet, fühlt sich das nicht nach der Erfüllung des großen Traums an. „Heute kommt es mir so vor, als wäre der Tag, an dem ich meinen Universitätsabschluss erhielt, der Auftakt für einen Jahre andauernden Abstieg gewesen. Als hätte ich an jenem Tag die Spitze eines Berges erklommen, ohne mich je gefragt zu haben, was nach dem Erreichen des Gipfels zu tun wäre, nur um dann auf der anderen Seite in eine dunkles Tal zu rutschen und mich zu verlieren."

Die hellen und die dunklen Seiten des Lebens, der Herkunft und der Liebe schildert Martin Kordić beeindruckend.

Ursprünglich wollte er einen Roman über das Segeln schreiben, erzählt Martin Kordić im Literaturhaus Berlin. Aber dann habe sich die Geschichte schnell entwickelt - das erste Drittel des Romans habe er in vier Wochen geschrieben, die restlichen zwei Drittel haben dann einige Jahre in Anspruch genommen. Das genaue und überlegte Schreiben merkt man diesem klug konstruierten und durchdachten Roman auch an. Ob in Ludwigshafen, München oder in der Herzegowina - ob auf dem Segelboot, im Balkangrill oder bei illegalen Geschäften - Martin Kordić erzählt in einem präzisen und gleichzeitig feinen Ton. „Jahre mit Martha“ ist eine große Geschichte. Und ja, Martin Kordić hat recht, wenn er schreibt „dass wir uns mehr Geschichten erzählen sollten über uns in diesem Land.“ Mehr Geschichten wie „Jahre mit Martha“.

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