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Szenenbild Jeanne Dielman

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„Jeanne Dielman“ löst „Vertigo“ ab

„Sight and Sound’s Greatest Films of All Time Poll“ ist der heilige Listengral in der Filmwelt. Alle 10 Jahre erscheint sie neu und heute war es wieder soweit - der Filmkanon wird neu definiert!

Von Pia Reiser

Jetzt mal alle Platz nehmen: „Jeanne Dielman 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ von Chantal Akerman aus dem Jahr 1975 ist die neue Nummer Eins auf der „Greatest Films of All Time Poll“, die das britische Magazin „Sight and Sound“ alle zehn Jahre veröffentlicht.

Stimmberechtigt sind 1600 Film-KritikerInnen, die Liste gibt es seit 1952 und gilt in FilmliebhaberInnen und FilmkritikerInnen-Kreisen als - wie Chesney Hawkes sagen würde - the one and only. Oder wie Filmkritikerpapst Robert Ebert es formuliert hat: „the only one most serious movie people take seriously“. Ich liebe und schätze diese Liste auch sehr, umso größer war meine Freude (und laut mein Freudenschrei) am Frühstückstisch, als ich die Einladung bekommen habe, an der Abstimmung teilzunehmen. Hab sofort „Jaws“ auf eine Serviette geschrieben und dann drei Wochen lang nichts mehr hinzugefügt.

Diese Liste an 100 Filmen definiert über Jahrzehnte hinweg mehr oder weniger einen Filmkanon. Nach Jahrzehnten, in denen sich die Steinchen in diesem Kanon nur sehr wenig bewegt haben und nur langsam neue Kanon-Bausteine dazugekommen sind, lief die „Sight and Sound“-Liste Gefahr, als veralteter, starrer Koloss gesehen zu werden.

Also die gleiche Diagnose, die man den Oscars auch schon sehr lange, in den letzten Jahren aber gehäuft, gestellt hat und beide Film-Institutionen griffen zur gleichen Kur in der Hoffnung auf Verjüngung und erneute Zeitgeist-Andockung: Die Anzahl der Personen, die stimmberichtigt sind erhöhen - und bei der Auswahl auf Alter und Diversität achten. 2012 waren 864 KritikerInnen stimmberechtigt, 2022 an die 1600.

Kim Novak in "Vertigo"

universal

Jetzt auf Platz Zwei: „Vertigo“

Im Jahr 2012 war schon die Neuigkeit, dass „Citizen Kane“ nach 50 Jahren auf Platz Eins jetzt nur mehr auf Platz Zwei ist und „Vertigo“ die Liste anführt, Schlagzeilen wert. Die Durchrüttelungen der Liste 2022 sind noch zahlreicher - und noch aufregender:

Ich wurde von „Sight and Sound“ eingeladen meine „10 Greatest Films of All Time“ abzugeben, hier sind sie:

„M – Eine Stadt sucht einen Mörder“
„The Wizard of Oz“
„Vertigo“
„Playtime“
„2001“
„Jaws“
„I’m not there“
„Russian Ark“
„Get Out“
„Portrait of a Lady on Fire”

„Jeanne Dielman 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles“, der neue Film an der Spitze der Liste, erzählt den Alltag einer Frau, deren Name und Adresse dem Film den Titel geben. Wir sehen Jeanne beim Kochen, Putzen, Aufräumen. Den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn verdient die Witwe (Delphine Seyrig) mit Prostitution. Der Alltag ist geordnet und verläuft ohne aufregende Ereignisse (also fast, aber ich will jetzt nichts spoilern).

Akermann inszeniert im Alter von 25 Jahren ein über dreistündiges Porträt einer Hausfrau, über die wir am Ende nicht viel mehr wissen als zu Beginn. Kein klassischer Erzählbogen. Die britische Filmtheoretikerin Laura Mulvey schreibt über „Jeanne Dielman“ quasi prophetisch: „It felt as though there was a before and after Jeanne Dielman just as there had once been a before and after Citizen Kane.“ Orson Welles’ Film über das aufregende Leben des Zeitungsmagnaten in „Citizen Kane“ ist im Grunde das Gegenstück zu Akermans akribischen Beobachtungen. Lange Takes, ein Film, der fast in Echtzeit passiert, eine Dramaturgie, die mit ihrer Strenge (und Langsamkeit) fesselt - aber natürlich ist dies auch der autorenfilmische, sachliche und minimalistische Gegenentwurf zu dem betörenden und verführerischen Kino von Orson Welles und Alfred Hitchcock, deren Filme sich jetzt auf Platz Zwei und Drei befinden. Insofern ein herrlich irres Trio an der Spitze dieser Liste.

Das Blickfeld wurde geweitet

Mit „Jeanne Dielman“ ist erstmals ein Film einer Frau auf Platz Eins, bisher waren überhaupt nur zwei Filme (neben „Jeanne Dielman“ noch „Beau Travail“ von Claire Denis in der „Sight and Sound Poll“ vertreten). Auch das hat sich jetzt geändert. 11 Filme von Regisseurinnen sind unter den 100 Filmen - Akerman ist noch mit einem zweiten Film vertreten - „News from Home“ auf Platz 52. Ebenfalls mit zwei Filmen ist Agnes Varda vertreten („The Gleaners and I“ und „Cleo from 5 to 7“), weiters „The Piano“ (Jane Campion), „Wanda“ (Barbara Loden), „Portrait of a Lady on Fire“ (Celine Sciamma), „Meshes of the Afternoon“ (Maya Deren and Alexander Hammid) und „Daughters of the Dust“ (Julie Dash).

Get Out

Universal

Spike Lees „Do the right thing“ war bisher noch gar nicht vertreten und befindet sich nun auf Platz 24. 2012 war mit „Touki Bouki“ nur ein Film eines schwarzen Filmemachers auf der Liste zu finden, jetzt sind elf - unter ihnen auch Jordan Peeles fantastischer „Get Out“ (auf Platz 95 ex aequo mit „Parasite“ von Bong Joon Ho).

Die erhoffte Öffnung ist jedenfalls eingetreten und auch ein deutlicher Verjüngungsprozess der Liste. Vor 10 Jahren war der neueste Film unter den Top 10 „2001“ aus dem Jahr 1968. Jetzt befinden sich unter den Top 10 nicht nur Kubricks Weltraum-Meisterwerk, sondern auch „In the Mood for Love“ (2000), „Mulholland Drive“ (2001) und „Beau Travail“ (1999). Vier Filme sind aus der letzten Dekade - neben „Portrait of a Lady on Fire“ und „Get Out“ auch noch „Moonlight“ und „Parasite“ in den Top 100. 2012 schaffte es kein Film aus den 10 Jahren zuvor auf die Liste. Das heißt auch: Der Grundstock des Kanons bröckelt. Für die jüngeren KritikerInnen muss ein Film nicht schon jahrelangen Meisterwerk-Status haben, um sich überhaupt für den Gedanken, ob er etwas für diese Liste wäre, zu qualifizieren. (Ich hätte ja noch darauf gewettet, dass Paul Thomas Andersons Name in der Liste auftaucht, aber naja, dann halt 2032).

Animationsfilme!

Erstmals sind auch zwei Animationsfilme unter den Top 100 - und beide von Hayao Miyazaki: „My Friend Totoro“ und „Spirited Away“. Was fällt dann also raus, wenn sich soviel verschiebt und neu arrangiert? Nun, die Nouvelle Vague-Filme sind insgesamt ein wenig nach hinten gerutscht und „Jules et Jim“ von Francois Truffaut ist gar nicht mehr auf der Liste zu finden. Ebenfalls von der Liste gerutscht sind einige Filme, die bisher ziemlich fest im Kanon verankert waren: „The Godfather Part II“, „Raging Bull“ und „Chinatown“.

Szenenbild Totoro

studio ghibli

Die Liste der „Greatest Films of All Time“ ist immer ein guter Startpunkt gewesen, um in die Filmgeschichte einzutauchen, das Angebot einer Idee dazu, was einen Film great macht. Mit der Liste 2022 sind definitiv einige neue Ideen dazugekommen. „Jeanne Dielman“ ist sicherlich kein crowdpleaser doch „Jeanne Dielman“ fordert den Blick heraus, ist vielleicht für einige anstrengend oder gar fad, aber richtig anstrengend und fad ist ein eingerosteter Blick aufs Kino.

Aber: Dass „Jaws“ immer noch nicht auf der Liste ist, ist langsam ein Fall für Jonathan Frakes.

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