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Armutsgefährdung

Auf einen Tee bei Familie Koch

Jeder sechste Mensch in Österreich ist armutsgefährdet. Bei Kindern ist es noch schlimmer: Jedes vierte Kind ist von Armut bedroht. Familie Koch aus Oberösterreich weiß, was es bedeutet, jeden Euro umzudrehen. Sie hat uns erzählt, was Teuerung bedeutet, wenn man am Existenzminimum lebt.

Von Paul Pant

Minus 15 Grad hatte es in der Nacht vor dem Interview. Es ist warm in der kleinen Stube des ehemaligen Bauernhauses im Westen von Österreich. Frau Koch macht Tee, ihr neunjähriger Sohn sitzt in eine Decke eingepackt auf der Couch und inhaliert, wegen einer überstandenen Grippe. „Wir tanken momentan Heizöl aus Kanistern. Die Heizung läuft momentan nur über Kanister", sprudelt es aus Frau Koch heraus. Die 37-Jährige zweifache Mutter führt das Wort in der Familie. Ein voller Heizöltank ist bei den aktuellen Energiepreisen unbezahlbar, ebenso eine Umstellung der Heizanlage auf Holzschnitzel.

Unter der Armutsgefährdungsschwelle

Aus gesundheitlichen Gründen kann Frau Koch nicht arbeiten, Vater Koch ist Alleinverdiener. 1.800 Euro stehen der vierköpfigen Familie pro Monat zur Verfügung. Die Armutsgefährdungsschwelle für zwei erwachsene Personen liegt aktuell bei 2.056,50 Euro pro Monat. 12 Mal im Jahr, Urlaubsgeld und Beihilfen eingerechnet. Pro Kind unter 14 Jahren erhöht sich der Betrag um 411,30 Euro. Für Familie Koch liegt also die Armutsgefährdungsschwelle bei etwa 2.879,10 Euro. Von diesem Betrag kann Familie Koch nur träumen. Im vergangenen halben Jahr hat sich die finanzielle Situation durch Teuerung und unerwartete finanzielle Belastungen immer mehr zugespitzt.

Definition von Armutsgefährdung

Nach der in der EU verwendeten Definition von Armutsgefährdung gelten in Österreich rund 1,5 Mio. Menschen oder 17,3% der in Privathaushalten lebenden Bevölkerung als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. In Österreich werden diese Kennzahlen im Rahmen der jährlichen EU-SILC-Erhebungen ermittelt. EU-SILC steht für ‚European Union Statistics on Income and Living Conditions‘.

Eine Person gilt nach der EU-SILC-Definition als armutsgefährdet, wenn sie über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens (auch mittleres Einkommen) verfügt. Um das Medianeinkommen zu berechnen, werden alle Einkommen nebeneinander gestellt und das mittlere Einkommen so definiert, dass genauso viele Haushalte ein niedrigeres wie ein höheres Einkommen haben.

Das ehemalige Bauernhaus ist stark renovierungsbedürftig. Wegen eines Wassereintritts gibt es Schimmelbefall; der Boden musste raus. Auf die neuen Fliesen musste die Familie ein halbes Jahr lang sparen, erzählt Frau Koch. Der Sohn benötigt wegen einer Lernschwäche eine Therapie, die aus dem Familienbudget bezahlt werden muss, 200 Euro pro Monat. Dafür stecken sie gerne zurück, sagen Herr und Frau Koch. Ihnen ist wichtig, dass es den Kindern gut geht und ihre 7-jährige Tochter und ihr 9-jähriger Sohn nicht zu viel von der finanziellen Situation mitkriegen.

Ganz gelingt das den Eltern nicht. „Wir waren jetzt seit fünf Jahren nicht mehr im Kino“, erzählt Frau Koch. Und wenn die Kinder fragen, warum im Sommer die Freunde wegfahren können und wann sie auch einmal einen Ausflug machen würden, da müssen die Kochs in der aktuellen Situation sagen, dass das im Moment nicht möglich sei. In den vergangenen Monaten ist es auch schon vorgekommen, dass man die letzten Cents aus dem Glas zusammenkratzen und dann auf der Bank umtauschen musste, um den Kindern die sechs Euro Bastelgeld mitzugeben, sagt Frau Koch.

„Verzweifelt“

Besonders hart für die Eltern seien dann die Momente, wenn man zum Beispiel zum Schulbeginn nicht weiß, wie man eine volle Schultüte und die neuen Schulsachen für die Kinder bezahlen soll. „Da sitzt man dann ratlos da“, sagt Frau Koch und Herr Koch ergänzt: „verzweifelt.“ Zu Schulbeginn musste sich die Familie deswegen an die Volkshilfe wenden. Das lebensnotwendige Auto, das der Vater braucht, um in die Arbeit zu fahren, war kaputt gegangen. „Wir haben immer geschafft, das irgendwie rumzureißen“, erzählt Frau Koch, „aber wo es dann so viel auf einmal war, die Strom-Abschaltung gedroht hat, da habe ich nimmer gewusst, wie man es machen soll.“

Hilfe anzunehmen hat ein wenig gebraucht. Früher hätten sie immer versucht, den Schein zu wahren, erzählt Frau Koch. Aber mittlerweile sage sie sich, dass sie die Leute, die ihre Situation nicht akzeptieren oder sie von oben bemitleiden, nicht in ihrem Leben brauche. Dass die Teuerung ihre Existenz bedrohe, dafür muss man sich nicht schämen, sagt Frau Koch. Sie möchte lieber auf den Tisch hauen und zeigen, dass es nicht mehr geht und sie nicht mehr könne. Denn: „Ich möchte nicht wissen, wie viele Eltern momentan daheimsitzen und sich überlegen: Wie bringen wir Weihnachten rum“, sagt Frau Koch.

Geldbörse mit einigen Euromünzen

Pixabay / CC0

1,5 Mio. Menschen sind armutsgefährdet

Die Zahl armutsbetroffener Menschen in Österreich ist in den letzten Jahren gestiegen. Dabei sticht besonders heraus, dass die Armutsgefährdungsquote bei Kinder und Jugendlichen bis 17 Jahren am höchsten ist mit 20 Prozent. Bei Männern zwischen 50 und 64 Jahren liegt sie nur bei 10 Prozent. Volkshilfe-Direktor Erich Fenninger rechnet vor, dass noch vor zwei Jahren „nur“ jedes fünfte Kind von Armut betroffen gewesen ist. „Jetzt ist es schon fast jedes vierte Kind, in Zahlen 368.000 Kinder und Jugendliche“, sagt Fenninger. Seit vielen Jahren fordern NGOs in Österreich, allen voran die Volkshilfe, eine Kindergrundsicherung und mehr Geld für armutsgefährdete Kinder und Jugendliche.

Das Modell einer Kindergrundsicherung sieht zu einem Sockelbetrag für alle Kinder – ähnlich der aktuellen Familienbeihilfe – einen einkommensabhängigen zusätzlichen Betrag vor, der sich an der Armutsgefährdungsschwelle orientiert. „Mit diesem einkommensbezogenen Betrag sollten alle Kinder die Möglichkeit haben, teilzunehmen, und nicht nur zu überleben“, sagt Fenninger. Damit sie am Ende des Monats ausreichend zu essen hätten, Freizeitaktivitäten nachgehen können, sich Nachhilfe leisten können und eine bessere Perspektive im späteren Leben hätten, so der Volkshilfe-Direktor. In Deutschland ist die Kindergrundsicherung von der Ampelregierung beschlossene Sache, in Österreich gibt es dafür keine Mehrheit. In der Bundesregierung haben sich nur die Grünen für eine Kindergrundsicherung ausgesprochen. Kosten würde das Modell der Volkshilfe zwischen 700 bis 900 Millionen Euro, sagt Fenninger.

Für Familie Koch wären das etwa 500 bis 600 Euro mehr pro Monat, die Schwelle zum weitgehend sorgenfreien Leben, sagt Frau Koch. Und Herr Koch, der beim Gespräch sehr schweigsam war, sagt zum Ende: Seiner Meinung nach sollten die vielen Milliardengewinne der Energieunternehmen, die aktuell gemacht werden, aufgeteilt werden. Denn, so Herr Koch: „Wir haben denen geholfen, dass die reich geworden sind. Und die Politiker, die sollten endlich einmal einen Laut geben.“ Und am Weg zurück zum Bahnhof fragt mich Herr Koch noch, ob er das eh nicht zu aggressiv gesagt hat.

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