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Buchcover: Eine Frau mit einem brennenden Zündholz im Mund, hinter einer Glasscheibe, über die Regenwasser herunter rinnt

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Giulia Caminito: Generation ohne Vertrag und Versicherung

Die 1988 in Rom geborene Schriftstellerin Giulia Caminito erzählt in ihrem dritten Roman „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ vom Heranwachsen einer jungen Frau in prekären Verhältnissen im Italien der 90er und 00er Jahre.

Von Savanka Schwarz

„Ich denke, wir sind Abfallmaterial, nutzlose Karten in einem komplizierten Spiel, angeschlagene Billardkugeln, die nicht mehr richtig rollen: Wir sind unbeweglich am Boden liegengeblieben wie mein Vater, der von einem unzureichend gesicherten Gerüst gefallen ist, auf einer illegalen Baustelle, ohne Vertrag und ohne Versicherung, und von hier unten aus sehen wir zu, wie andere sich Ketten und Edelsteine um den Hals legen.“

Buchcover: Eine Frau mit einem brennenden Zündholz im Mund, hinter einer Glasscheibe, über die Regenwasser herunter rinnt

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Giulia Caminito - „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ wurde aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner

Gaia lebt zusammen mit ihren drei Geschwistern und ihren Eltern in der Nähe von Rom in einer kleinen Sozialwohnung. Der Vater sitzt seit einem Unfall auf einer illegalen Baustelle im Rollstuhl. Die Mutter versucht die Familie mit Putzjobs über Wasser zu halten. Die Mutter, die so wie alle Familienmitglieder meistens nur beim Vornamen und nicht etwa „Mama“ genannt wird, wird als eine starke Frau mit vielen Prinzipien beschrieben. Die Familie wohnt in der Nähe von Rom. Gaia pendelt jeden Tag in die Stadt, um das gute Gymnasium dort besuchen zu können. Ihre Mutter sieht Bildung als die einzige Chance für sozialen Aufstieg.

In ihrer Kindheit ist die armutsbedingte Verletzlichkeit immer präsent, die individuelle Angst, anders zu sein als die anderen Kinder, herauszustechen und aufzufallen. Aufzufallen mit dem alten, schon vom Bruder getragenen Schulrucksack, aufzufallen mit dem Haarschnitt von der Mutter, weil es kein Geld für den Frisörbesuch gibt. Aber auch die Verletzlichkeit vor dem Staat, vor der Politik, wenn Sozialgelder nicht rechtzeitig ausgezahlt werden und das die Familie vor existenzbedrohende Herausforderungen stellt:

„Unser Leben besteht darin, die Stadt, den Bürgermeister, Italien anzubetteln, uns zu Hilfe zu eilen, aufgenommen und gerettet und nicht vergessen zu werden, unser Leben ein unentwegtes Bitten.“ Eindrücklich erzählt die Ich-Erzählerin, wie arm zu sein schon als Kind jeden Lebensbereich durchdringt, so auch die Freundschaften: „Über mein Leben zuhause spreche ich nicht mit ihnen; wenn sie sich beklagen, weil die Mutter ihnen das Falsche geschenkt hat, ein gestreiftes T-Shirt oder das Fahrrad, das sie in Rosa und nicht in Lila wollten, nicke ich, aber mein latenter Neid liegt gedrückt auf der Erde wie eine Natter, er lässt sich nicht sehen, ich pflege ihn hingabevoll, beschwichtige ihn an der Schwelle zu den Eingeweiden, nähre ihn, wo ich kann, kaschiere ihn mit der Hoffnung, dass es wichtiger ist, zwei Freundinnen zu haben, als die Ärmste von den dreien zu sein.“

Die Geschichte einer „Deformation“

Nicht nur an Geld mangelt es. In der kleinen Wohnung gibt es auch wenig Raum für Zuneigung. Giulia Caminito bricht damit mit der Sozialromantik, dass Geld keine Rolle spiele, wo einfach genügend Liebe vorhanden sei. Wenn Gaia in der Schule gemobbt wird, erzählt sie das zuhause nicht. Sorgen gibt es dort genug, eine zusätzliche Belastung möchte sie nicht sein. Gaia versucht sich den anderen anzupassen, um der Scham über ihre Herkunft zu entkommen. Besonders ihre Mutter wird zu dem stilisiert, was sie nie sein möchte:

„Ich besitze wenige Dinge, aber diese wenigen werden verhindern, dass ich meiner Mutter ähnlich werde, meiner Mutter, der Übergangenen, der Arbeiterin, der Tellerwäscherin, der mit dem auf dem Flohmarkt gekauften Leinenkostüm, das sie angezogen hat, um zu scheinen, was sie nicht ist. Ich muss schnellstmöglich aufhören, das fehlerhafte Kind zu sein, und mich in eine Frau verwandeln, in die man sich verlieben kann.“

Sie habe einen Anti-Bildungsroman geschrieben, „un romanzo di deformazione“, sagt die Autorin Giulia Caminito in dieser Präsentation ihres Buches:

In der Protagonistin staut sich die Wut. Wut darüber, dass Bildung kein Garant mehr für den sozialen Aufstieg ist, Wut auf ihre Mutter, die ihre versäumten Träume auf sie projiziert, Wut auf ihre Herkunft. Wer darauf hofft, dass eine von Armut geprägte Kindheit auch positive Charaktereigenschaften hervorbringen kann, wird von diesem Buch enttäuscht. Denn die Autorin romantisiert nichts und genau diese schonungslose Schwere ist die Stärke des Romans.

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