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Milena Michiko Flašar

Helmut Wimmer

Milena Michiko Flašar „Oben Erde, unten Himmel“

Milena Michiko Flašar schreibt in ihrem neuen Buch „Oben Erde, unten Himmel“ über die Befreiung aus der Einsamkeit und Isolation. Ein berührendes und aufrüttelndes Buch, das vom Sterben handelt und sich dadurch mit dem Leben befasst.

von Andreas Gstettner-Brugger

Schon die berühmte Schweizer Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat in ihren Büchern und Seminaren immer wieder erwähnt: Beschäftigt sich man mit dem Tod, so beschäftigt man sich eigentlich mit dem Leben. In Angesicht des Todes blicken wir nämlich anders auf die kostbare Zeit, die uns hier auf diesem Planeten bleibt. Und trotzdem sind das Sterben und der Tod immer noch große Tabuthemen in unserer Gesellschaft, die mehr denn je von Selbstoptimierung und Hedonismus geprägt zu sein scheint.

Das neue Buch „Oben Erde, unten Himmel“ der österreichischen Autorin Milena Michiko Flašar ist deshalb ein mutiges und aufrüttelndes Buch geworden. Es handelt vom Abschiednehmen, vom Sterben, von Achtsamkeit und den kleinen Dingen im Leben, die zu den großen werden. Außerdem ist es eine berührende Geschichte über die innere Befreiung einer jungen Frau.

Wenn das Sterben zum Leben führt

Suzu ist Mitte Zwanzig. Sie lebt recht isoliert und allein in einer kleinen Wohnung in einer japanischen Großstadt. Neben ihrem Job als Aushilfskellnerin ist die einzige beständige Komponente ihr Hamster. Doch selbst der scheint sich immer mehr vor ihr zu verstecken und nur mehr nachts aus seinem Bau zu kommen.

Buchcover Milena Michiko Flašar "Oben Ede, unten HImmel"

Verlag Klaus Wagenbach

Das neue Buch „Oben Erde, unten Himmel“ von Milena Michiko Flašar ist im Verlag Klaus Wagenbach erschienen.

Als Suzu nach einer kurzen Romanze von einem auf den anderen Tag geghostet und noch dazu als Hilfskellnerin entlassen wird, muss sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Ein Vorstellungsgespräch bei einer Reinigungsfirma führt sie zu Herrn Sakai, der inmitten von Schachteln, Kartons, Antiquitäten und Gemälden in seinem Büro sitzt. Neben ihr der junge Takada, der sich ebenfalls um die Stelle bewirbt. Und dann kann sie ihren Ohren kaum trauen.

„Unsere Firmenphilosophie ist folgende“, führte er weiter aus, „wir agieren schnell und präzise, und wir streben nach absoluter, ich betone: nach absoluter Hygiene und Sauberkeit. Die Tatsache, dass wir es mit Leichen zu tun haben, bedeutet nicht, dass wir uns auch nur die geringste Nachlässigkeit erlauben dürfen.“ Leichen? Hatte Herr Sakai „Leichen“ gesagt? Unmöglich! Der Whiskey musste mir zu Kopf gestiegen sein, Darum bemüht, nicht die Fassung zu verlieren, linste ich zu dem Typen neben mir. Der kritzelte seelenruhig in sein Heftchen.

Nach dem ersten Schock beginnt sich Suzu widerwillig dem neuen Job zu fügen und säubert mit einem Putztrupp die Wohnungen von einsam Verstorbenen. Was als magenumdrehende Erfahrung beginn, entwickelt sich zu einer wertvollen Gemeinschaft, in der Suzu allmählich wieder lernt, den Menschen und dem Leben zu vertrauen.

Mit Solidarität gegen den einsamen Tod

Die österreichische Autorin mit japanischen Wurzeln Milena Michiko Flašar hat sich in ihren Büchern schon immer für die Menschen am Rande der Gesellschaft interessiert. In ihrem mehrfach ausgezeichneten Roman „Ich nannte ihn Krawatte“ sind es die Hikikomori, Menschen, die das Zimmer ihres Elternhauses nicht mehr verlassen und sich von der Welt abschotten. In „Herr Katō spielt Familie“ sind es Menschen, die als Schauspieler Familienrollen übernehmen und ihren Platz in der Gesellschaft gegen Geld spielen.

Milena Michiko Flašar

Helmut Wimmer

Letztes Jahr war Milena Michiko Flašar eine der Wortlaut-Juror*innen. Wie sie es mit „Ausreden“ hält, könnt ihr hier nachlesen.

Das ausführliche Interview mit der Autorin gibt es außerdem im FM4 Interviewpodcast.

Diesmal ist die Autorin eher zufällig über das japanische Wort Kodokushi gestolpert. Übersetzt bedeutet es wörtlich „einsamer Tod“. Mit Kodokushi werden jene Menschen in Japan bezeichnet, die eine plötzlichen, einsamen Tod in ihrer Wohnung erleiden und deren Leichen lange Zeit unentdeckt bleiben. Es sind jährlich an die 30.000 bis 40.000 Kodokushi-Fälle in Japan, die hauptsächlich in Großstädten vorkommen und meist männliche Rentner betreffen. Tendenziell steigt diese Zahl stark an und die Menschen, die es betrifft, werden immer jünger. Eine besorgniserregende Entwicklung, auf die Milena Michiko Flašar mit ihrem Buch aufmerksam machen will.

Milena Michiko Flašar: „Diese Kodokushi, die wochen-, monate- und manchmal sogar jahrelang unentdeckt bleiben, sind ein Thema, das uns alle betrifft. Es wirft einen Schatten auf unsere Gesellschaft. Kennen wir beispielsweise unsere Nachbarn gut genug? Wissen wir, wer da neben uns wohnt? Das ist auch etwas Gesellschaftliches. Im Roman fordert der Firmenchef Sakai die junge Suzu auf, ihre Nachbarn kennenzulernen. Er meint damit, wir sollten ein Mindestmaß an Interesse an unseren Mitmenschen haben und er meint, dass wir manchmal auch einen Umweg für jemand anderen gehen sollten. Auch wenn es einem manchmal lästig ist.“

Dementsprechend ist „Oben Erde, unten Himmel“ ein Buch für die Solidarität und ein Plädoyer für den Versuch, eine bessere Version von sich selbst zu leben. So gelingt es auch der schüchternen, zurückgezogenen und isolierten Hauptfigur Suzu, ihren Schutzpanzer nach und nach abzulegen und über das Interesse an ihren Mitmenschen wieder mit ihrer eigenen Lebendigkeit in Kontakt zu kommen. Selbst ihr Hamster, der tierische Seismograf ihrer psychischen Verfassung, lässt sich wieder von ihr streicheln.

Mit Humor und Achtsamkeit zurück ins Leben

„Oben Erde, unten Himmel“ ist trotz der Schwere des Themas auch ein humorvolles Buch. Die schrulligen Charaktere, allen voran der Reinigungsfirmenchef Herr Sakai, sorgen für witzige Dialoge und ungewollte Komik und sind in ihrer Unaufgeregtheit ganz nah am wirklichen Leben.

Auch das Tempo des Romans trägt dazu bei, dass man nicht in dunklen Stimmungen stecken bleibt. Die knapp 300 Seiten umfassen lediglich ein Jahr im Leben von Suzu, in dem sich nicht nur äußerlich Dinge verändern, sondern auch ihre inneren Entwicklungen Fahrt aufnehmen. Sehr behutsam und mit viel Einfühlungsvermögen lockert Milena Michiko Flašar das lebensverweigernde Korsett ihrer Hauptfigur. Nach und nach kann Suzu ihren Schutz vor Schmerz, den das Leben mit sich bringt, abbauen und wieder in Beziehung zu ihrer Umwelt treten. Es ist ein berührender Prozess, dem wir hier nachspüren können.

Milena Michiko Flašar auf Lesetour in Österreich:

  • 22.02.23 Literaturhaus Salzburg, 19:30
  • 22.04.23 Literatur & Wein, Stift Göttweig, 18:00
  • 28.06.23 Wien, ÖGL, 19 Uhr
  • 23.09.23 Septemberlese, Langenlois

Ein weiterer Aspekt, der das Buch zu einem wunderschönen Leseerlebnis macht, ist die Achtsamkeit, mit der die Figuren in Milena Michiko Flašars Roman ihren Tätigkeiten nachgehen. Mit großem Respekt und achtsamen Ritualen begegnen sie den einsam Verstorbenen, ihren intimen Lebensräumen und den zurückgebliebenen Erinnerungen an den Wänden und in den Schubladen. Sie würdigen die kleinen Dinge und damit eben auch die große Lebensbewegung, die Menschen mit- und durchmachen.

Das alles macht „Oben Erde, unten Himmel“ zu einem Buch über die Zerbrechlichkeit des Lebens und macht damit deutlich, wie wertvoll unsere Zeit hier auf Erden ist, wenn wir uns dem Leben und unseren Mitmenschen öffnen können.

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