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Die englische Seestadt St. Leonards-On-Sea

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Mit Aram am offenen Fenster

Ein paar abschweifende Gedanken über Migrationshintergründe, von der englischen Kanalküste bis zur Begegnung einer Wiener Schulklasse mit einem niederösterreichischen Landesrat und wieder zurück.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Gestern sind wir am großen Fenster gesessen, mein Freund Aram und ich. Eines dieser großen von unten nach oben zu öffnenden Schiebefenster, die einem theoretisch den Kopf abschlagen könnten, wenn sie runter fallen (und ja, ich habe solche Fenster schon fallen gesehen).

Aber schön sind sie, und im Fall von Arams Wohnung in St. Leonards-on-Sea, unten an der Südküste reichen sie von der Decke bis hinunter zum Boden. Mit Blick über die Straße direkt hinaus aufs Meer. Im Sommer überquert Aram morgens die Grand Parade und geht geradewegs über den Kieselstrand ins Wasser. Im Winter sitze ich mit ihm am offenen Schiebefenster, wir schauen hinaus ins nur von helleren Wellenkämmen unterbrochene Schwarz und hören das Rauschen. Wer von hier aus ostwärts segelt, würde irgendwann ungefähr in Boulogne landen.

Arams Fenster mit Blick auf den Kanal

Robert Rotifer

Arams großes, offenes Fenster

Ein bisschen weiter die Küste entlang wiederum, jenseits des mit St. Leonards verwachsenen Hastings, liegt der Ort Battle, der tatsächlich so heißt, weil dort vor 957 Jahren die Schlacht stattfand, in der Wilhelm, der Normannenherzog, den angelsächsischen König Harold Godwinson besiegt hat.

Ich erzähle das hier jetzt nur, weil es in dieser Kolumne aus aktuellen Gründen um das Ein- und Auswandern gehen soll, und um die gemischten Gefühle, die Menschen ihrer Wahlheimat, und infolgedessen jeder Form von Heimat gegenüber haben.

Dieser Wilhelm/Guillaume/William jedenfalls, je nachdem, wo man von ihm spricht, kam aus der Normandie, die ihrerseits heute noch so heißt, weil sie im Jahrhundert davor von den Normannen erobert wurde. Er war also bereits ein Mann mit Migrationshintergrund, als er 1066 ein paar Meilen von Arams Fenster entfernt mit seinen Schiffen auftauchte.

Im Unterschied zu Aram und mir war er aber nicht sonderlich assimilationswillig, sondern bestand darauf, gleich König seiner neuen Wahlheimat zu werden, in der er dann allerdings – nicht nur wetterbedingt – relativ wenig Zeit verbrachte. Das Festland war ihm lieber, gestorben ist er dementsprechend in Caen, einem Fährenhafen auf der anderen Seite des Kanals.

Auf diese Eroberung durch Französisch sprechende Wikingerkinder und ihre multiethnische Söldnerarmee geht jedenfalls vieles zurück, was wir heutzutage für die englische Sprache halten, und gerade deshalb präsentiert sich die Gegend gern als ein Ursprungsort der englischen Identität. Was ja selbst bei flüchtiger Betrachtung (wurden nicht gerade die Angelsachsen dort besiegt?) schon reichlich paradox wirkt, aber ihr ahnt ohnehin bereits, worauf ich hinaus will: Wie völlig arbiträr sie sind, die Definitionen nationaler Identität aus einer Mischung von geographischer Lage, Herrschaftswechseln, Niederlassungen und anderen Dingen, die sich am jeweiligen Ort einmal abgespielt haben.

Irgendwann vor 957 Jahren hätte man von Arams Fenster aus vielleicht Williams 1000 Schiffe kommen sehen können. Als ich selbst vor 26 Jahren und 34 Tagen nach England zog, wollten auch noch alle da hin, von überall auf dem Festland, oft aus den gleichen Gründen wie ich. England war damals immer noch unbestreitbar das wichtigste Zentrum der europäischen Popkultur, und ich hab mir aus jenen Zeiten immer noch die Angewohnheit erhalten, zu sympathischen Menschen vom Festland, wenn ich dort auf Besuch bin, zu sagen: „Wenn du nach England kommst, melde dich.“

Früher einmal war die Antwort darauf eigentlich immer enthusiastisch, ob ernst gemeint oder nicht. Wenn ich sowas heute in Wien, Paris oder Berlin sage, ernte ich darauf dagegen nur die Art von sprachlosem, milden Lächeln, die sagt: Eine Fahrt nach England? Das wird so bald wohl nicht passieren. Verständlicherweise.

Im Februar 2023 saßen wir nun am südlichen Rand dieser Insel, Aram und ich, und redeten über unsere Gründe hierzubleiben. Oder auch nicht.

Aram, der seit Ende 2009 in England lebt, ist, um hier einmal die neulich in einer österreichischen TV-Talk-Show gefallenen Worte des niederösterreichischen Landesrats Gottfried Waldhäusl abzuwandeln (dank sozialer Medien sind sie mir bzw. bin ich ihnen nicht entgangen), definitiv einer der Gründe, warum St. Leonards nicht mehr St. Leonards ist.

St. Leonards wäre noch St. Leonards, wären Leute wie Aram und all die anderen Londoner*innen, die auf die teure Metropole pfiffen, nicht hier heruntergezogen. Es wäre noch jenes traurige, vom meersalzigen Nebel rostige, langsam aussterbende Kaff an der Küste, das es vor dieser Welle von Neuankünften war.

Vielleicht mit etwas niedrigeren Wohnkosten, zugegeben, aber wer sich in den seit ein paar Jahren durchaus aufgeblühten Straßen von St. Leonards so umsieht, wird ebenso zugeben müssen, dass das Städtchen - so wie viele andere englische Seestädte - vom Zuzug junger Londoner*innen insgesamt wohl stark profitiert hat.

Obwohl, wer weiß. Es gibt auch hier sicher die Waldhäusls, einen Mr oder eine Mrs Woodhouse (nicht Wodehouse), die St. Leonards lieber unverändert vor sich hin rosten gesehen hätten.

Ich vergaß zu erwähnen, Aram Zarikian, so ist sein voller Name, ist – so wie ich – ein Teil der exilösterreichischen Community hier. Deshalb kennen wir uns auch, als typische Ausländer, die in ihrer Wahlheimat die Netzwerke der Eingewanderten pflegen.

Zum ersten Mal traf ich ihn 2016, als uns der Auftrag zusammenbrachte, gemeinsam mit dem Pianisten Daniel Rico im Londoner Austrian Cultural Form ein für dessen 60. Jubiläum geschriebenes und eingeprobtes Programm namens Rutland Reverb aufzuführen.

Unser einziges Gesprächsthema bei diversen Zigarettenpausen während Probe und Soundcheck war dabei die fünf Tage später bevorstehende Abstimmung über einen möglichen EU-Austritt. Die Umfragen prophezeiten eine knappe Mehrheit für „Remain“, aber als Ausländer, die mit ihren Ausländernasen gewisse Winde wittern, die Inländer*innen nicht bemerken, waren wir uns da gar nicht so sicher.

Am Ende unserer Performance sang übrigens Arams damalige Partnerin Andreya Triana „London is the Place for me“, die berühmte Calypso-Hymne der in den späten Vierzigern bis frühen Sechzigern aus der Karibik angekommenen, sogenannten Windrush-Generation. Als bewusstes Zeichen der Verbundenheit zwischen unseren eigenen und Andreyas Migrationshintergründen, nicht zufällig in jenem Haus in Knightsbridge, wo seit Gründung des Kulturinstituts im Jahr nach dem Staatsvertrag Generationen von Exil-Österreicher*innen die kulturelle Beziehung zu jenem Land aufrecht gehalten hatten, aus dem sie emigriert bzw. geflüchtet waren.

Damals, als das Nazi-Regime zu besonders mörderischen Methoden der Verwirklichung seines Verlangens nach dem – siehe oben – historisch gänzlich absurden Ideal der völkischen Reinheit fand. Als unter anderem tausende Schüler*innen aus Wiener Schulklassen verschwanden, auf dass Wien wieder „Wien“ werde.

In den Jahrzehnten, die ich seit meinem Ankommen in London 1997 das Cultural Forum (damals noch „Cultural Institute“) besuchte, hatte ich die Überlebenden jener Generation bei diversen Konzertabenden und Lesungen noch angetroffen, unter ihnen Stammgäste wie der schon 1935 nach England emigrierte Kameramann Wolfgang Suschitzky.

Inzwischen ist kaum noch jemand von dieser Generation am Leben, aber ein Widerhall jener düsteren österreichischen Emigrationsgeschichte schwingt immer noch in den Mauern des Hauses am Rutland Gate (das Rutland Reverb eben).

Daniel Rico und Aram Zarikian im Austrian Cultural Forum, Juni 2016

Robert Rotifer

Daniel Rico und Aram Zarikian bei den Proben zu „Rutland Reverb“ im Austrian Cultural Forum am Rutland Gate, London, 2016.

Dort also lernte ich Aram, der in London Produktion und Schlagzeug unterrichtet, vor mittlerweile sieben Jahren schätzen. Für sein großes musikalisches Talent (das er unter anderem als zeitweiliger Drummer bei der teils exilösterreichischen kalifornischen Band Karmic auslebt) wie seinen Kärntner Schmäh (doch, den gibt’s wirklich). Und ja, falls ihr euch fragt: komischer Name, klingt nicht kärntnerisch. Auch die Zarikians waren einmal emigriert bzw. geflüchtet, und zwar aus Armenien (da war doch was, genau, ein Völkermord).

Ich weiß nicht, ob es Aram so, wie ich’s mir selbst erkläre, leichter fiel, woanders hinzuziehen, weil es in seiner wie in meiner Familie zuvor schon radikale Ortswechsel gegeben hatte. Ich weiß allerdings, dass er so wie ich und viele andere Migrant*innen auch, sobald man diesen Schritt einmal getan hat, für immer diese Option im Kopf tragen wird. Die Überlegung, ob man nicht woanders besser aufgehoben wäre.

Als wir gestern Abend vor Arams offenem Fenster zum Meer saßen, ließen wir, ausgehend davon, was derzeit in England so abgeht (wie von mir hier ausführlich in diversen Kolumnen beschrieben), wieder einmal diese Gedanken kreisen. Und Aram sagte, dass er, bei aller Liebe zur adoptierten Insel, die wir einander nicht mehr zu erklären brauchen, nicht mehr wirklich wisse, ob er unbedingt dabei sein mag, wie sie sich weiter durch ihren am Lebensstandard zehrenden Niedergang schleppt.

England ist schon lange nicht mehr jenes unbestreitbare europäische Zentrum der Popkultur, in das wir einmal ausgewandert waren. Und nicht zuletzt infolge der traumatischen, xenophoben Selbstsabotage des Brexit sieht es nicht so aus, als könnte es das so bald wieder werden. Warum also sind wir noch da, und wo wäre es denn besser?

Ganz sicher nicht in Österreich, da waren wir uns einig, denn an diesem Punkt kam die Sprache auf jene Begegnung des Landesrat Gottfried Waldhäusl mit einer Favoritner Schulklasse vor zwei Tagen in einem Wiener Fernsehstudio. Und auf den kalten Schauer, den uns die menschenverachtende Aggression jener österreichischen Version der überall existierenden Fremdenangst über den Rücken jagt.

Man muss gewiss nicht als Ausländer*in in einem Land leben, um diesen kalten Schauer zu spüren. Wieder einmal diesen Wind zu wittern. Aber ich gebe zu, es hilft.

Für meinen Teil wünsche ich mir jedenfalls, dass Aram noch eine Weile bleibt. St. Leonards wäre einfach nicht mehr St. Leonards ohne seine Einwander*innen, wie diesen Villacher mit armenischen Wurzeln. Ich hätte schlicht keinen Grund mehr, dort hinzufahren. Bei Wien sehe ich das auch so.

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